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Anne Frank Tag 2023
Auf den Spuren der Freiheit
Zeitgemäße Erinnerungskultur knüpft an das Erleben junger Menschen an – so wie der Audiowalk, den Schülerinnen und Schüler zum Anne Frank-Tag entwickelt haben. Ein Gastbeitrag von Meron Mendel.
Jin, Jiyan, Azadî – wenn ich auf dem Weg zur Arbeit in der Bildungsstätte Anne Frank am Iranischen Generalkonsulat vorbeikomme, begegne ich dort auch Monate nach Beginn der feministischen Proteste im Iran mutigen Menschen, die ihre Stimme für Menschenrechte und Freiheit erheben. Ich sehe sie und muss an die vielen bewegenden Begegnungen mit Exiliraner*innen denken, mit denen wir über die Jahre immer wieder in Ausstellungsprojekten und Veranstaltungen zusammengearbeitet haben.
Aber mir kommen auch wieder die Worte Anne Franks in den Sinn, die wir in diesem Jahr zum Motto des jährlichen Anne Frank Tages gewählt haben: „Wir hören doch immer, dass wir alle zusammen für Freiheit, Wahrheit und Recht kämpfen“, so notierte Anne es am 22. Mai 1944 im Amsterdamer Hinterhaus-Versteck in ihrem Tagebuch, wenige Wochen, bevor sie, ihre Familie und die anderen Untergetauchten entdeckt und deportiert wurden.
Kampfgeist, Gerechtigkeitssinn und eine wache Beobachtungsgabe
Es mag abwegig erscheinen, das Schicksal eines von den Nationalsozialisten verfolgten und im Konzentrationslager Bergen-Belsen gestorbenen jüdischen Mädchens in Beziehung zu setzen zu heutigen Freiheitskämpfen im Iran und andernorts. Und natürlich können wir nur darüber spekulieren, ob Anne sich den Protesten in ihrer einstigen Nachbarschaft am Dornbusch angeschlossen hätte, wenn sie in ihrer Heimatstadt Frankfurt hätte bleiben können, erwachsen werden und am 12. Juni ihren 94. Geburtstag hätte begehen können. Aber ihre wache Beobachtungsgabe, ihr Gerechtigkeitsempfinden und ihr Kampfgeist, die aus ihren Aufzeichnungen sprechen, inspirieren bis heute gerade junge Menschen in ihrem Bestreben, sich für eine bessere Gesellschaft einzusetzen, gegen Diskriminierung, für Menschenrechte, für Frieden.
Eine jugendgerechte und zeitgemäße Erinnerungskultur
Dass Anne Frank eine Identifikationsfigur für Jugendliche ist, erleben wir in unserer Arbeit regelmäßig, etwa wenn Jugendgruppen zu uns ins Lernlabor »Anne Frank. Morgen mehr.« kommen. Ausgehend von den Erfahrungen, die junge Menschen heute umtreiben, lässt sich eine Brücke in die Vergangenheit schlagen, lassen sich Bezüge herstellen zwischen Damals und Heute – nicht um NS-Unrecht zu relativieren oder Anne Franks Schicksal zu instrumentalisieren, wie es Querdenker, Rechte und Antisemiten in jüngerer Zeit allzu oft getan haben – sondern um Möglichkeiten einer jugendgerechten und zeitgemäßen Erinnerungskultur zu schaffen. Auf Augenhöhe mit den Jugendlichen, in ihrer Sprache, in ihrem Alltag und in der digitalen Welt.
Eine Erkundungstour durch den Dornbusch
Kürzlich haben mich die Neuntklässler*innen der Frankfurter Anne-Frank-Schule besonders beeindruckt. Sie haben sich bei uns in der Bildungsstätte mehrere Tage mit Anne Frank auseinandergesetzt, mit ihrer ebenfalls im Tagebuch festgehaltenen „Sehnsucht nach Sprechen und Freiheit“ – und mit dem, was sie als junge Frankfurter*innen im Jahr 2023 mit dieser Sehnsucht verbinden. Sie haben sich auf den Weg gemacht durch den Dornbusch, das Viertel in dem Anne Frank einst mit ihrer Familie ihre ersten Lebensjahre verbrachte, und haben mit den Menschen gesprochen, die sie unterwegs trafen. Mit Protestierenden vor dem Iranischen Generalkonsulat – aber auch mit der Mitarbeiterin einer Shisha-Bar und die Bedeutung von Orten wie diesen drei Jahre nachdem ein rechter Attentäter im benachbarten Hanau neun Menschen aus rassistischen Motiven an eben solchen Orten erschoss.
Die Bezüge zu Anne Frank mögen nicht offensichtlich sein, aber das müssen sie auch nicht – wenn junge Menschen sich ausgehend von ihren Worten mit der Gesellschaft auseinandersetzen, in der sie leben; wenn sie sich angeregt fühlen, sich aktiv mit Menschenrechtsverletzungen, Ausgrenzung, Unfreiheit auseinanderzusetzen und eigene Worte dafür zu finden, dann ist damit – so bin ich überzeugt – mehr für eine zeitgemäße Erinnerungskultur getan als mit jeder ritualisierten Gedenkstunde.
Jede Generation schaut mit einem neuen Blick auf Annes Worte
Jede Generation schaut mit neuem Blick auf Annes Worte, es rücken andere Stellen des Tagebuchs in den Fokus und entfalten im Kontext aktueller Ereignisse ihre Relevanz für das Leben junger Menschen – es ist diese Wandelbarkeit der Deutungszugänge zu ihrem Tagebuch, die mich immer wieder aufs Neue fasziniert. Der Anne Frank Tag, den wir seit 2017 gemeinsam mit der Stadt Frankfurt und zahlreichen Kooperationspartnern rund um ihren Geburtstag am 12. Juni ausrichten, bietet auch in diesem Jahr zahlreiche Gelegenheiten, eigene Zugänge zu Anne Franks Geschichte, ihrem Tagebuch und den darin verhandelten Themen zu finden. Und gerade in diesem Jahr, in dem wir in Frankfurt die Geburtsstunde der Demokratie gefeiert haben, sich aber auch die nationalsozialistische Machtübernahme 1933 zum 90. Mal jährt, möge die Erinnerung an Frankfurts berühmteste Tochter uns alle dazu inspirieren, nachhaltig für eine bessere Gesellschaft einzutreten, gegen Ungerechtigkeit, für Freiheit.
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Meron Mendel ist Direktor der Bildungsstätte Anne Frank und Professor für transnationale soziale Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences. Sein neues Buch „Über Israel reden. Eine deutsche Debatte“ (Kiepenheuer & Witsch 2023) stand auf der Shortlist des Deutschen Sachbuchpreises 2023.
Der Anne Frank Tag findet dieses Jahr am 11./12. Juni statt – zu den zahlreichen Veranstaltungen zählen neben der Premiere des Audiowalks „Sehnsucht nach Sprechen und Freiheit“ der Bildungsstätte Anne Frank etwa Synagogen- und Museumsführungen, ein Konzert des Sängers und Gitarristen Tal Arditi, ein Kinoabend, sowie Workshops, Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen. Der Flyer mit allen Programmpunkten ist online abrufbar,
Aber mir kommen auch wieder die Worte Anne Franks in den Sinn, die wir in diesem Jahr zum Motto des jährlichen Anne Frank Tages gewählt haben: „Wir hören doch immer, dass wir alle zusammen für Freiheit, Wahrheit und Recht kämpfen“, so notierte Anne es am 22. Mai 1944 im Amsterdamer Hinterhaus-Versteck in ihrem Tagebuch, wenige Wochen, bevor sie, ihre Familie und die anderen Untergetauchten entdeckt und deportiert wurden.
Es mag abwegig erscheinen, das Schicksal eines von den Nationalsozialisten verfolgten und im Konzentrationslager Bergen-Belsen gestorbenen jüdischen Mädchens in Beziehung zu setzen zu heutigen Freiheitskämpfen im Iran und andernorts. Und natürlich können wir nur darüber spekulieren, ob Anne sich den Protesten in ihrer einstigen Nachbarschaft am Dornbusch angeschlossen hätte, wenn sie in ihrer Heimatstadt Frankfurt hätte bleiben können, erwachsen werden und am 12. Juni ihren 94. Geburtstag hätte begehen können. Aber ihre wache Beobachtungsgabe, ihr Gerechtigkeitsempfinden und ihr Kampfgeist, die aus ihren Aufzeichnungen sprechen, inspirieren bis heute gerade junge Menschen in ihrem Bestreben, sich für eine bessere Gesellschaft einzusetzen, gegen Diskriminierung, für Menschenrechte, für Frieden.
Dass Anne Frank eine Identifikationsfigur für Jugendliche ist, erleben wir in unserer Arbeit regelmäßig, etwa wenn Jugendgruppen zu uns ins Lernlabor »Anne Frank. Morgen mehr.« kommen. Ausgehend von den Erfahrungen, die junge Menschen heute umtreiben, lässt sich eine Brücke in die Vergangenheit schlagen, lassen sich Bezüge herstellen zwischen Damals und Heute – nicht um NS-Unrecht zu relativieren oder Anne Franks Schicksal zu instrumentalisieren, wie es Querdenker, Rechte und Antisemiten in jüngerer Zeit allzu oft getan haben – sondern um Möglichkeiten einer jugendgerechten und zeitgemäßen Erinnerungskultur zu schaffen. Auf Augenhöhe mit den Jugendlichen, in ihrer Sprache, in ihrem Alltag und in der digitalen Welt.
Kürzlich haben mich die Neuntklässler*innen der Frankfurter Anne-Frank-Schule besonders beeindruckt. Sie haben sich bei uns in der Bildungsstätte mehrere Tage mit Anne Frank auseinandergesetzt, mit ihrer ebenfalls im Tagebuch festgehaltenen „Sehnsucht nach Sprechen und Freiheit“ – und mit dem, was sie als junge Frankfurter*innen im Jahr 2023 mit dieser Sehnsucht verbinden. Sie haben sich auf den Weg gemacht durch den Dornbusch, das Viertel in dem Anne Frank einst mit ihrer Familie ihre ersten Lebensjahre verbrachte, und haben mit den Menschen gesprochen, die sie unterwegs trafen. Mit Protestierenden vor dem Iranischen Generalkonsulat – aber auch mit der Mitarbeiterin einer Shisha-Bar und die Bedeutung von Orten wie diesen drei Jahre nachdem ein rechter Attentäter im benachbarten Hanau neun Menschen aus rassistischen Motiven an eben solchen Orten erschoss.
Die Bezüge zu Anne Frank mögen nicht offensichtlich sein, aber das müssen sie auch nicht – wenn junge Menschen sich ausgehend von ihren Worten mit der Gesellschaft auseinandersetzen, in der sie leben; wenn sie sich angeregt fühlen, sich aktiv mit Menschenrechtsverletzungen, Ausgrenzung, Unfreiheit auseinanderzusetzen und eigene Worte dafür zu finden, dann ist damit – so bin ich überzeugt – mehr für eine zeitgemäße Erinnerungskultur getan als mit jeder ritualisierten Gedenkstunde.
Jede Generation schaut mit neuem Blick auf Annes Worte, es rücken andere Stellen des Tagebuchs in den Fokus und entfalten im Kontext aktueller Ereignisse ihre Relevanz für das Leben junger Menschen – es ist diese Wandelbarkeit der Deutungszugänge zu ihrem Tagebuch, die mich immer wieder aufs Neue fasziniert. Der Anne Frank Tag, den wir seit 2017 gemeinsam mit der Stadt Frankfurt und zahlreichen Kooperationspartnern rund um ihren Geburtstag am 12. Juni ausrichten, bietet auch in diesem Jahr zahlreiche Gelegenheiten, eigene Zugänge zu Anne Franks Geschichte, ihrem Tagebuch und den darin verhandelten Themen zu finden. Und gerade in diesem Jahr, in dem wir in Frankfurt die Geburtsstunde der Demokratie gefeiert haben, sich aber auch die nationalsozialistische Machtübernahme 1933 zum 90. Mal jährt, möge die Erinnerung an Frankfurts berühmteste Tochter uns alle dazu inspirieren, nachhaltig für eine bessere Gesellschaft einzutreten, gegen Ungerechtigkeit, für Freiheit.
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Meron Mendel ist Direktor der Bildungsstätte Anne Frank und Professor für transnationale soziale Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences. Sein neues Buch „Über Israel reden. Eine deutsche Debatte“ (Kiepenheuer & Witsch 2023) stand auf der Shortlist des Deutschen Sachbuchpreises 2023.
Der Anne Frank Tag findet dieses Jahr am 11./12. Juni statt – zu den zahlreichen Veranstaltungen zählen neben der Premiere des Audiowalks „Sehnsucht nach Sprechen und Freiheit“ der Bildungsstätte Anne Frank etwa Synagogen- und Museumsführungen, ein Konzert des Sängers und Gitarristen Tal Arditi, ein Kinoabend, sowie Workshops, Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen. Der Flyer mit allen Programmpunkten ist online abrufbar,
7. Juni 2023, 11.42 Uhr
Meron Mendel
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Text: Sina Claßen / Foto: Schlafplätze in der Notübernachtung am Escheinheimer Tor © Stadt Frankfurt am Main/Salome Roessler
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