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Michel Friedman

„Die demokratischen Parteien sind hilflos“

Am Donnerstag, 31.10., wird Michel Friedman für seine besonderen Verdienste mit der Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt geehrt. Im Interview mit dem JOURNAL spricht er über die Krise unserer Demokratie.
JOURNAL FRANKFURT: Herr Friedman, Ihre Rede im Hessischen Landtag anlässlich des 50. Todestages von Oskar Schindler wird als Abrechnung mit der AfD gewertet. Sehen Sie Ihre Rede auch so?
Michel Friedman: Auf keinen Fall! Es ist eine Rede für die Demokratie und die Würde des Menschen, mit der ich versucht habe, Orientierung herzustellen. Ich habe die AfD ganz bewusst nicht mit Namen erwähnt, dafür aber direkt angesprochen. Ich habe den Parlamentarier:innen Auge in Auge einige Dinge zu sagen gehabt, nachdem ich über Jahre ihren Antisemitismus, ihren Rassismus, ihre Menschenverachtung, ihre geistige Brandstiftung, ihren Hass und ihre Demokratiefeindlichkeit anhören musste.

Ich war eingeladen, zum 50. Todestag von Oskar Schindler zu sprechen. Und dann saßen sie da. Ich dachte mir, wie heuchlerisch das ist! Was ist das für eine schmutzige Doppelmoral? Oskar Schindler wäre für die AfD ein Judenfreund und Verräter gewesen. Ich fing an, über Oskar Schindler zu sprechen und merkte, so funktioniert das nicht. In diesem Moment hat sich in mir etwas emotional und kognitiv verändert. Ich habe die Rede, die ich halten wollte, in den Papierkorb geworfen. Eine neue geschrieben.

Sie sagten zur AfD, dass Oskar Schindler sie verachten würde.
In der Tat. Ich habe ihnen gesagt, dass die die Demokratie zerstören wollen und dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Für diese Partei ist die Würde einiger Menschen antastbar, und damit sind sie nicht am demokratischen Rand, sondern außerhalb. Die AfD ist zwar demokratisch gewählt, aber sie ist deswegen keine demokratische Partei geworden.

„Der strukturelle Menschenhass ist nicht erst mit der AfD erschienen – wir haben uns 20 Jahre taub, blind und stumm gestellt“

Sie haben sich in Ihrer Rede auch an die demokratischen Parteien gewandt.
Die demokratischen Parteien, die ja noch immer eine große Mehrheit in diesem Parlament repräsentieren, müssen sich die Frage gefallen lassen, dass wenn die AfD die größte Oppositionspartei geworden ist, auch sie Fehler gemacht haben müssen. Und zwar seit Jahren, seit Jahrzehnten. Der strukturelle Menschenhass ist nicht erst mit der AfD erschienen, sondern bereits vorher in den parteipolitischen Raum eingedrungen.

Ist unsere Demokratie in der Krise?
Ja! Sowohl im System als auch in unserer Bevölkerung. Wir haben uns 20 Jahre taub, blind und stumm gestellt, weil es uns gut ging. Zwar sind 70 bis 80 Prozent Demokraten, die sich auch als solche fühlen, aber die meisten sind gelangweilt, die meisten sind gleichgültige Demokraten – das ist das Schlimmste – einige sind dekadent. Entweder wir arbeiten in den nächsten, wenigen Jahren sehr intensiv an der Demokratie, verhandeln sie oder wir werden sie verlieren. Wir sollten über die Gleichheit der Menschen sprechen, wir wissen überhaupt nicht mehr, wie das gemeint ist, wo das herkommt, nämlich vom Gedanken der Aufklärung.

„Lügen ersetzen Religionen, TikTok ist jetzt Gott, die Protagonisten sind Priester, Rabbis und Imame“

Brauchen wir im 21. Jahrhundert eine zweite Aufklärung?
Davon bin ich überzeugt. Die erste Aufklärung ist unter ganz bestimmten Bedingungen erfolgt: die Trennung von Glauben und Kirche als Macht. Jetzt kommt die Herausforderung, vor der wir stehen. Wir befinden uns in der digitalen Revolution. Sie ist bereits unsere Welt und hat unsere Kommunikation verändert. Wir Menschen erzählen uns Geschichten, wir leben davon. Die digitale Welt ist aber eine Lügenwelt. Lügen ersetzen Religionen, wenn man dieser Analogie folgt, ohne die Religionen zu beleidigen, ist TikTok jetzt Gott, die Protagonisten sind Priester, Rabbis und Imame.

60 Prozent aller Jugendlichen unter 20 Jahren nutzen TikTok als einziges Informationsmedium. Was bedeutet das für die Entwicklung, ein mündiger Bürger zu werden?
TikTok ist ein emotionales Medium, ein Verblödungsmedium. Ein Drittel der Jugendlichen wird sich sicher davon emanzipieren, wenn irgendwann die Ratio einsetzt. Die einzige Möglichkeit, sich aus dieser Unmündigkeit zu befreien, ist die Vernunft. Wir werden allerdings damit rechnen müssen, dass 25 bis 30 Prozent in dieser Blase aus Lügen und Propaganda bleiben werden. Stellen wir uns diese Generation in 15 Jahren vor, wenn viele in Führungspositionen arbeiten. Stellen wir uns eine Besprechung vor, in der 25 bis 30 Prozent der Teilnehmer auf einer Informationsbasis diskutieren, die mit Wissen und Tatsachen nichts zu tun hat, aber die anderen 60 Prozent damit konfrontieren.

Was bedeutet das für unsere Gesprächskultur?
Wir können uns nur auf der gleichen Grundlage von Tatsachen streiten, auf die wir uns einigen.

„Wir alle müssen mehr Verantwortung übernehmen, denn wir haben nicht mehr viel Zeit“

Es ist eine Schwäche des demokratischen Systems, dass antidemokratische Parteien an die Macht kommen, die die Demokratie abschaffen könnten?
Die Demokratie hat viele strukturelle Voraussetzungen. Es dauert länger, einen Meinungsbildungsprozess zu erarbeiten. In der Demokratie dauert es länger, einen Kompromiss zu finden. In der Diktatur geht alles schnell, und niemand wird gefragt. Die Mehrheit wählt demokratische Parteien. Aber mit welcher Leidenschaft und mit welcher inneren Überzeugung? Es gibt viele Engagierte, keine Frage. Aber das reicht nicht. Wir alle müssen mehr machen und die demokratischen Parteien besser werden, denn wir haben nicht mehr viel Zeit.

Was können wir tun?
Es ist die Aufgabe der Eliten, Verantwortung zu übernehmen. Wir sind in allen Verantwortungsstrukturen aufgefordert, uns diskursiv über eine Aufklärung des 21. Jahrhunderts zu unterhalten. Aufklärung bedeutet die Wahrung von Menschenrechten, Demokratie, Freiheit, Gleichheit, sozialer Gerechtigkeit, Kultur- und Pressefreiheit.

Reicht unser Grundgesetz nicht aus?
Was seinen ethischen Anspruch angeht, ist unser Grundgesetz kaum verbesserbar. Aber wer kennt denn das Grundgesetz? Mit der Ermordung von Walter Lübcke haben die Parteien den ersten Schuss gehört. Der Wahlkampf in den drei Bundesländern im Osten hat allen gezeigt, dass es dort nicht nur einen theoretischen Hass gibt, sondern einen Mob, der bereit ist zu schlagen und zu nötigen.

„Am Anfang dachte man, es hat etwas mit den Anderen zu tun, bis man merkte, es hat mit allen zu tun“

Haben wir als Gesellschaft der Demokraten dieser Entwicklung zu lange zugeschaut?
Aber natürlich. Erst waren es zu wenig Wählerinnen und Wähler. Dann waren es Protestwählerinnen und -wähler. Mit alldem konnten wir uns mit Blick auf die demokratischen Parteien erst einmal exkulpieren. Am Anfang dachte man, es hat etwas mit Ausländern, Juden, Schwarzen oder Queeren zu tun, bis man merkte, es hat mit ALLEN zu tun.

Hat das nicht auch mit der Performance unserer Bundesregierung zu tun?
Selbst dann, es legitimiert nicht, unsere Demokratie mit einer Partei zu zerstören, die außerhalb des demokratischen Spektrums ist. Wir sehen aber, dass die demokratischen Parteien hilflos sind. Sie greifen nicht nachhaltig durch! Wie auch bei anderen Themen, wie dem Islamismus, der nicht nur für mich als Jude eine Bedrohung ist. Es geht nicht um die Muslime, aber um diejenigen, die sich radikalisieren, denn sie wachsen ebenfalls in ihren Zahlen. Auch sie haben ein Frauenbild wie die AfD: rückwärtsgewandt, der Mann bestimmt, die Frau darf Kinder bekommen und kochen. Sie haben einen antidemokratischen Blick. Sie sind gefährlich, weil sie extrem gewaltbereit sind. Wie wollen wir radikalen Muslimen klarmachen, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, wenn diese uns entgegnen: Was ist mit Herrn Höcke?

„Es gibt keinen rechtsfreien Raum“

Was ist mit dem Linksextremismus?
Wir müssen auch die Linksextremisten dazunehmen. Jüdische Studierende können derzeit nicht an die Universitäten gehen, ohne angegriffen zu werden. Es ist unerträglich zu sehen, dass die Universitäten ihrer Fürsorgepflicht nicht nachkommen! Auch wenn sich das an banale Politikargumentationen annähert: Wenn das Rechtsextremisten wären, würde die Uni geräumt werden. Wenn Straftaten an welchem Ort auch immer stattfinden, gibt es keinen rechtsfreien Raum!

Abschließend noch einmal zu Oskar Schindler zurück: In Frankfurt erinnert nicht viel an ihn, eine Gedenktafel an seinem letzten Wohnsitz Am Hauptbahnhof 4. Es gibt eine kleine Straße in Nieder-Eschbach, die nach ihm benannt wurde. Wäre es nicht an der Zeit, ihn mehr zu würdigen?
Auch das war Verdrängungspolitik. Über Jahrzehnte war er der Beweis, dass jeder und jede Einzelne in der Nazizeit etwas hätte tun können. Die Allermeisten haben nichts getan. Ihn auf ein Podest zu stellen, hätte ihre Lügen entlarvt. Es wurde darüber diskutiert, dass der Vorplatz des Hauptbahnhofs seinen Namen tragen soll. Eine Initiative des Ortsbeirats,
nicht des Stadtparlaments. Ich gehe davon aus, dass wir, wenn die Bauarbeiten beendet sind, dort den Oskar-Schindler-Platz haben werden.




Friedmans Rede im Hessischen Landtag – Applaus von den demokratischen Parteien © Screenshot der Rede (Hessischer Rundfunk)

Info
Zur Person: Prof. Dr. Dr. Michel Friedman, geboren 1956 in Paris, ist Philosoph, Publizist und Buchautor.
 
31. Oktober 2024, 11.30 Uhr
Jasmin Schülke
 
Jasmin Schülke
Studium der Publizistik und Kunstgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seit Oktober 2021 Chefredakteurin beim Journal Frankfurt. – Mehr von Jasmin Schülke >>
 
 
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