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"Widerfahrnis" von Bodo Kirchhoff
Nach Sizilien, mit Hut
Am Montag ging der Deutsche Buchpreis an den Frankfurter Schriftsteller Bodo Kirchhoff. Für seinen Roman "Widerfahrnis" rühmte die Jury ihn als meisterhaften Erzähler. Unser Autor, auch Vorsitzender der Jury, stellt Kirchhoff und sein Buch vor.
Zur Zeit ist Bodo Kirchhoff in Frankfurt. Am Montag Abend nahm er den Deutschen Buchpreis entgegen. Im Sommer jedoch, bis Mitte September, hält er sich am Gardasee auf, wo er in seinem Ferienhaus, gemeinsam mit seiner Frau Ulrike Bauer, Schreibkurse abhält. Das ist insofern erwähnenswert, als dass Kirchhoff mit seinem neuen Buch „Widerfahrnis“, für das er den Deutschen Buchpreis bekommen hat, doch der eine oder andere Seitenhieb ausgeteilt wird gegen jene Leute, die keine Ahnung haben vom Schreiben, aber unbedingt ihre Lebensgeschichte zu Papier bringen müssen. „Aus dem eigenen Leben erzählen“, so lautet im Übrigen der Titel des Kurses, der am 10. September endete. Bodo Kirchhoff schont beim Schreiben niemanden, am wenigsten allerdings sich selbst.
Das trifft auch auf das neue Buch zu: Neun Stunden täglich, so erzählt Bodo Kirchhoff, hat er an dem Buch gesessen und geschrieben. Schreiben ist nicht einfach nur Warten auf die Inspiration, sondern Arbeit, echte Arbeit. Kirchhoff schreibt von einem Buch eine Version nach der nächsten, so lange, bis er zufrieden ist. Als er gerade in Frankfurt war, trafen wir ihn in seiner Arbeitswohnung, gelegen in einem Haus, das man von außen eher als hässlich bezeichnen würde. Umso überraschender, ja geradezu bezaubernder ist der Aus- und Umblick, den man vom 10. Stock des Hochhauses in der Gartenstraße in Sachsenhausen hat. Hier, in dieser Wohnung, hat Bodo Kirchhoff in seinem großen Roman „Verlangen und Melancholie“ seine Hauptfigur Hinrich wohnen lassen, weil er einen vertrauten Schauplatz brauchte.
Und nun also eine Novelle, „Widerfahrnis“. Ein altmodisches Wort; ein theologisch aufgeladener Begriff, der ein Erlebnis umschreibt, das einem Menschen unerwartet zustößt. Ein schmales Buch, das Kirchhoff nun nach zwei umfangreichen und großartigen Romanen vorgelegt hat. „Danach“, sagt er, „fühlte ich mich erschöpft. Ich hatte das Grundgefühl für dieses schmale Buch in mir. Ich hatte das Gefühl, ich würde damit einen Zyklus abrunden können.“ „Widerfahrnis“ ist ein ungemein schönes, zutiefst rührendes und sehr trauriges Buch geworden. „Diese Geschichte“, so hebt Kirchhoff an, „die ihm noch immer das Herz zerreißt, wie man sagt, auch wenn er es nicht sagen würde, nur hier ausnahmsweise, womit hätte er sie begonnen?“
Derjenige, der sich das fragt, heißt Reither, hat bis vor kurzem noch einen kleinen Verlag mit Buchhandlung in Frankfurt geführt und sich nun im Alter und allein in ein kleines Appartement in einer Wohnanlage in Tirol zurück gezogen. Er braucht nicht viel. Eines Tages hört er vor seiner Tür ein Geräusch. Da steht Leonie Palm, ehemalige Besitzerin eines Hutgeschäfts, nun ebenfalls in der Wohnanlage. Einen Hut hat sie auch immer auf. Die beiden brechen auf, spontan, zu einer Fahrt in Richtung Süden, immer weiter und weiter, bis sie in Sizilien landen. Beide nehmen sie ihre Geschichten mit, tragische Geschichten. Leonie hat ihre aufgeschrieben, in einem Buch. Das trägt sie bei sich. Auf Sizilien werden die beiden mit der Realität der Flüchtlingskatastrophe konfrontiert. Sie nehmen ein Mädchen unter ihre Fittiche, doch was heißt das schon: Helfen sie dem Kind? Oder vereinnahmen sie es nur für die Abarbeitung eigener Schuldkomplexe und Helfersyndrome?
„Widerfahrnis“ ist, wie bei Bodo Kirchhoff üblich, ein sehr sorgfältig gebauter Text, eine Road Novel, deren ganze Raffinesse sich erst am Ende erschließt. Und das völlig offenlässt, ob sie so wirklich geschehen ist. Reither könnte ebenso gut ein Mann sein, der sich sein eigenes Leben ausdenkt, während er sich gleichzeitig permanent selbst ins Wort fällt, alte Verlegergewohnheit, um sich zu korrigieren und vor Floskeln zu bewahren. An einem schönen Frühsommertag, kurz nach Abgabe des Manuskripts, hat Bodo Kirchhoff zum ersten Mal im Haus seines Verlegers Joachim Unseld in kleiner Runde aus „Widerfahrnis“ vorgelesen. Und wenn Kirchhoff vorliest, zeigt sich die Eleganz seiner Sprache, erschließen sich die weiten Satzbögen, die lebensklugen Erkenntnisse und die genauen Beobachtungen noch eindringlicher. Herzzerreißend eben. Auch wenn man das nicht sagen darf. Nur ausnahmsweise.
Der Autor ist Literaturredakteur beim Journal Frankfurt und Vorsitzender der Jury des Deutschen Buchpreises.
Das trifft auch auf das neue Buch zu: Neun Stunden täglich, so erzählt Bodo Kirchhoff, hat er an dem Buch gesessen und geschrieben. Schreiben ist nicht einfach nur Warten auf die Inspiration, sondern Arbeit, echte Arbeit. Kirchhoff schreibt von einem Buch eine Version nach der nächsten, so lange, bis er zufrieden ist. Als er gerade in Frankfurt war, trafen wir ihn in seiner Arbeitswohnung, gelegen in einem Haus, das man von außen eher als hässlich bezeichnen würde. Umso überraschender, ja geradezu bezaubernder ist der Aus- und Umblick, den man vom 10. Stock des Hochhauses in der Gartenstraße in Sachsenhausen hat. Hier, in dieser Wohnung, hat Bodo Kirchhoff in seinem großen Roman „Verlangen und Melancholie“ seine Hauptfigur Hinrich wohnen lassen, weil er einen vertrauten Schauplatz brauchte.
Und nun also eine Novelle, „Widerfahrnis“. Ein altmodisches Wort; ein theologisch aufgeladener Begriff, der ein Erlebnis umschreibt, das einem Menschen unerwartet zustößt. Ein schmales Buch, das Kirchhoff nun nach zwei umfangreichen und großartigen Romanen vorgelegt hat. „Danach“, sagt er, „fühlte ich mich erschöpft. Ich hatte das Grundgefühl für dieses schmale Buch in mir. Ich hatte das Gefühl, ich würde damit einen Zyklus abrunden können.“ „Widerfahrnis“ ist ein ungemein schönes, zutiefst rührendes und sehr trauriges Buch geworden. „Diese Geschichte“, so hebt Kirchhoff an, „die ihm noch immer das Herz zerreißt, wie man sagt, auch wenn er es nicht sagen würde, nur hier ausnahmsweise, womit hätte er sie begonnen?“
Derjenige, der sich das fragt, heißt Reither, hat bis vor kurzem noch einen kleinen Verlag mit Buchhandlung in Frankfurt geführt und sich nun im Alter und allein in ein kleines Appartement in einer Wohnanlage in Tirol zurück gezogen. Er braucht nicht viel. Eines Tages hört er vor seiner Tür ein Geräusch. Da steht Leonie Palm, ehemalige Besitzerin eines Hutgeschäfts, nun ebenfalls in der Wohnanlage. Einen Hut hat sie auch immer auf. Die beiden brechen auf, spontan, zu einer Fahrt in Richtung Süden, immer weiter und weiter, bis sie in Sizilien landen. Beide nehmen sie ihre Geschichten mit, tragische Geschichten. Leonie hat ihre aufgeschrieben, in einem Buch. Das trägt sie bei sich. Auf Sizilien werden die beiden mit der Realität der Flüchtlingskatastrophe konfrontiert. Sie nehmen ein Mädchen unter ihre Fittiche, doch was heißt das schon: Helfen sie dem Kind? Oder vereinnahmen sie es nur für die Abarbeitung eigener Schuldkomplexe und Helfersyndrome?
„Widerfahrnis“ ist, wie bei Bodo Kirchhoff üblich, ein sehr sorgfältig gebauter Text, eine Road Novel, deren ganze Raffinesse sich erst am Ende erschließt. Und das völlig offenlässt, ob sie so wirklich geschehen ist. Reither könnte ebenso gut ein Mann sein, der sich sein eigenes Leben ausdenkt, während er sich gleichzeitig permanent selbst ins Wort fällt, alte Verlegergewohnheit, um sich zu korrigieren und vor Floskeln zu bewahren. An einem schönen Frühsommertag, kurz nach Abgabe des Manuskripts, hat Bodo Kirchhoff zum ersten Mal im Haus seines Verlegers Joachim Unseld in kleiner Runde aus „Widerfahrnis“ vorgelesen. Und wenn Kirchhoff vorliest, zeigt sich die Eleganz seiner Sprache, erschließen sich die weiten Satzbögen, die lebensklugen Erkenntnisse und die genauen Beobachtungen noch eindringlicher. Herzzerreißend eben. Auch wenn man das nicht sagen darf. Nur ausnahmsweise.
Der Autor ist Literaturredakteur beim Journal Frankfurt und Vorsitzender der Jury des Deutschen Buchpreises.
18. Oktober 2016, 11.33 Uhr
Christoph Schröder
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