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Zentralrat der Juden

Frankfurter Graumann neuer Präsident

Dieter Graumann ist zum neuen Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland gewählt worden. Ein Interview über Juden in Frankfurt, die NPD und Kritik an der israelischen Politik.
JOURNAL FRANKFURT: Ihr Büro liegt in der Kaiserhofstraße, jene Straße, die einst der Schriftsteller Valentin Senger in seiner Autobiographie ein Denkmal setzte. Ein Zufall?
Dieter Graumann: Ein reiner Zufall. Aber wissen Sie – ich bin ein eifriger Leser und führe seit vielen Jahren ein Lesetagebuch. Valentin Sengers Buch habe ich Mitte der Neunzigerjahre gelesen, ungefähr zu der Zeit, als ich hier einzog. Ich wollte mehr über die Geschichte der Straße erfahren. Und hatte kurz zuvor Ralph Giordanos Buch „Die Bertinis“ gelesen ...

... das in Hamburg spielt ...
... ja, das aber mit Sengers Geschichte große Gemeinsamkeiten hat. Auch dort geht es um ein unglaubliches Überleben.

Ist Sengers Geschichte unglaublich?
Es hat mich als jüdischer Mensch sehr bewegt, dass diese Familie in Frankfurt während der Nazi-Zeit überleben konnte. Sie waren ja doppelt gefährdet als Kommunisten und Juden. Es ist eine Zusammenballung von Wundern, von Zufällen, von glücklichen Umständen – aber auch der Tatsache geschuldet, dass es in dieser dunklen Zeit offenbar mutige Leute gab, die ihnen geholfen haben. Warum gab es nicht viel mehr? Warum wurde nicht mehr getan – wie schön wäre das gewesen? Doch die Hilfe war die Ausnahme und das Morden die Regel.

Ein gutes Beispiel ist Polizeimeister Kaspar, der ein hohes Risiko auf sich genommen hat.
Oder der Arzt, der sofort sah, dass Valentin Senger beschnitten war und dies doch sehr freundlich und klug übergangen hat. Es war nicht alles Schwarz-Weiß. Es gab in meinem Frankfurt Menschen mit Mut, Herz und Güte, die unter Gefahren jüdischen Bürgern geholfen haben. Das war nicht normal, aber diese Geschichte muss man unbedingt weitererzählen.

Die Kaiserhofstraße wird im Buch geradezu schillernd dargestellt.
Auch die Fressgass’!

Ein unglaublicher Reichtum, den die Stadt verloren hat. Sie sind in Israel geboren und kamen im Alter von eineinhalb Jahren nach Frankfurt. Wann ist ihnen dieser Verlust bewusst geworden?
Die Frankfurter Geschichte war mir nicht vertraut. Es gab nach dem Krieg sehr wenige deutsche Juden, die meisten kamen aus Osteuropa. Meine Eltern kamen ebenfalls aus Polen, sie waren in verschiedenen Konzentrationslagern. Ich habe einen Großteil meiner Familie in der Shoa verloren. Ich bin also, so kann man es sagen, mit dem Holocaust aufgewachsen. Darüber haben meine Eltern sehr früh mit mir gesprochen. Eigentlich zu früh.

Wie meinen Sie das?
Meine Eltern wurden früh traumatisiert. Meine Mutter wurde als junges Mädchen abgeholt, sie erzählte immer, dass sie sich nicht einmal von ihren Eltern verabschieden konnte. Diese Dinge arbeiten in einem, und die haben sie mir mitgegeben. Das hat mir nicht so schrecklich gut getan. Aber das gibt es sehr oft in Holocaust-Familien, dass sich die Eltern-Kind-Rolle umgekehrt hat. Die Kinder wurden zu den Behütern der Eltern. Sie haben ge- wusst oder doch zumindest ge- spürt, dass man sich um die Erwachsenen kümmern muss.

Wie haben Sie Frankfurt in den Sechzigerjahren erlebt?
Als ich in die Schule ging, hatte ich fast nur Lehrer, deren prägendes Lebensereignis der Krieg war. Davon haben die, natürlich, ganz oft erzählt. Über Jahre war ich das einzige jüdische Kind in der Klasse, und da haben diese Geschichten eine ganz besondere Glocke zum Klingen gebracht. Bei jedem Mann, den man auf der Straße gesehen hat, fragte man sich, was der im Krieg getan hatte. Könnte er meine Eltern gequält, meine Großeltern getötet haben, könnte er harmlos gewesen sein oder doch ein Sadist?

Wie haben Sie sich die Geschichte des Frankfurter Judentums angeeignet?
Die habe ich mir angelesen. Obwohl es nicht meine eigene Familiengeschichte war, so sehe es doch mittlerweile als ein Stück davon an. Dieses deutsche Judentum war im Rückblick schwärmerisch und naiv und durchdrungen vom Wunsch, deutscher zu sein als viele Deutsche – und scheiterte daran.

War dies das Besondere?
Diese immer unerwidert gebliebene Liebe zu Deutschland war besonders stark. Und umso schlimmer und schmerzvoller ist dann auch die Enttäuschung gewesen. Senger schildert in seinen anderen Büchern ja auch, wie die deutschen Juden auf die in Frankfurt eintreffenden Ostjuden herabblickten, sie ihnen den Zugang zur Jüdischen Gemeinde verwehrten. Er schrieb tatsächlich, dass er nicht mal in den Sportclub eintreten durfte.

Hat sich das nach dem Krieg gewandelt?
Der Dünkel des deutschen Judentums war auch nach dem Krieg noch da, weniger stark vielleicht, weil die Nazis ja keine Unterschiede machten. Mittlerweile besteht die jüdische Gemeinde zu 90 Prozent aus osteuropäischen Juden, der Zuzug in den vergangenen 20 Jahren war enorm. Deswegen habe ich mich immer dafür stark gemacht, diesen Juden zu zeigen: Jetzt ist es anders, wir heißen euch mit offenen Armen willkommen.

Eine Integrationsleistung.
Das gibt es selten, das 10 Prozent 90 Prozent erfolgreich integrieren.

Wie sehen die Eingewanderten die Nazi-Zeit?
Ganz anders. Die sehen sich nämlich nicht als Opfer, sondern als Sieger. Etwa eine halbe Milli- on Juden haben in der Roten Armee gekämpft. Das ist eine ganz andere Erinnerungskultur. Doch vergessen werden wird der Holocaust nicht. Wir Juden haben ein sehr langes Gedächtnis, wir erinnern uns an Dinge, die 3000 Jahre weit weg sind. Doch ohne Zeitzeugen wird das Erinnern ein anderes.

Es wird abstrakter ...
... und gleichzeitig dürfen sich die Juden nicht zur Marionette der eigenen Katastrophe machen. Man muss das Positive hervorheben.

Ihre Eltern haben Deutschland nie als neue Heimat begriffen?
Wie so viele wollten sie nicht bleiben und haben erst ganz zum Schluss auch emotional die Koffer ausgepackt.

Mussten sich ihre Eltern dafür rechtfertigen?
Immer. Auch vor mir. Warum seid ihr in Deutschland geblieben, warum leben wir hier? Eine Standarddiskussion auch im Ausland, gerade in Israel.

Das ist vorbei?
Aber ja. Deutschland wird als liberales und tolerantes Land gesehen, in dem Juden so gut leben können wie nie zuvor.

Und doch heißt es, der Antisemitismus sei wieder auf dem Vormarsch ...
Ich bin gegen jede Art von Alarmismus. Es gibt einen Bodensatz von 20 Prozent, der Vorbehalte hat. Der Antisemitismus war nie weg, er war mal mehr, mal weniger camoufliert. Eine Partei wie die NPD lebt davon. Dass diese dafür auch noch Steuergeld bekommt und öffentlichen Raum und Plattformen in den Parla- menten, um ihre Weltsicht zu verbreiten, finde ich schlimm.

Sie plädieren für ein Verbot?
Es ist umstritten, aber ich finde es umstrittener, es nicht zu tun.

Reicht das denn?
Natürlich lassen sich Antisemitismus und Faschismus durch ein
Parteiverbot nicht ausrotten, doch eine Partei hat Privilegien. Wenn sie Demonstrationen veranstaltet, bekommt sie prominenten öffentlichen Raum zur Verfügung gestellt. Das Geld habe ich schon angesprochen, die schrecklichen Dinge, die sie in den Parlamenten von sich geben, auch.

Auf NPD-nahen Webseiten findet man ziemlich schreckliche Dinge über Sie. Lesen Sie so etwas?
Nein. Was soll ich mich über alles aufregen? Und wenn wir als Zentralrat etwas über die Politik Israels sagen, gibt es selbst in seriösen politischen Blogs plötzlich Sätze wie „Geh doch nach Israel!“ oder „Ihr seid die Nazis von heute!“. Das tu ich mir nicht an. Das kenne ich schon.

Ich verstehe diese Nähe zwischen Zentralrat und Israels Regierung auch nicht ...
Wir sind nicht das Sprachrohr der israelischen Regierung. Diese Aufgabe hätte die Botschaft. Bestimmt sind wir auch nicht immer damit einverstanden, was eine israelische Regierung tut. Gerade die jetzige macht es einem ja nicht leicht.

Aber Sie verteidigen oftmals die israelische Politik?
Wenn ich denke, dass Israel zu unrecht angegriffen wird. Sonst nicht.

Erschienen im Journal Frankfurt, Ausgabe 9/10
 
29. November 2010, 11.55 Uhr
Nils Bremer
 
 
Fotogalerie:
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