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Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger (l.) und Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt (r) am 3. November 2005 auf dem „World Business Forum“ in Frankfurt. © picture-alliance/ dpa/dpaweb | Boris Roessler
Meinung
Als Kissinger in Bensheim die Entnazifizierung vorantrieb
Henry Kissinger ist am 27. Mai 100 Jahre alt geworden. Unser Autor Jonas Lohse schreibt über dessen fast vergessenen Aufenthalt in Bensheim.
Henry Kissinger wird 100. Wow! In allen Wochenmagazinen und großen Tageszeitungen befassen sich Essays und Interviews mit der „Jahrhundertgestalt“ und seinem Wirken als Politiker und Berater, aber um diese Debatte soll es hier nicht gehen. 100 Jahre sind ein beindruckendes Alter. Im Zivildienst war meine älteste Patientin Jahrgang 1884, und kam somit noch vor der Erfindung des Autos auf die Welt.
Eine andere Patientin war nicht ganz so alt, aber alt genug, um als junge Frau das Kriegsende 1918 mitzuerleben. Im Frankfurter Hauptbahnhof wurde sie Zeugin, wie rivalisierende Arbeiter- und Soldatenräte sich wechselseitig entwaffneten. Im ansonsten eher freudlosen Zivildienst waren diese Begegnungen mit Zeitzeuginnen spannende und faszinierende Lichtblicke.
Erinnerungskultur in Deutschland
Aber mit der Erinnerung ist das in Deutschland ja so eine Sache. In dem Dorf, in dem ich aufwuchs, gab es einen Bauernhof, der von einer Mauer umgeben war. Wenn wir Kinder uns auf einen Grenzstein stellen, reichten wir gerade so über die Mauer hinweg und konnten einen alten Dachziegel beiseiteschieben, unter dem ein Bronzerelief Adolf Hitlers notdürftig verborgen wurde.
Das Dorf war vom Odenwald umgeben, in dem wir als Kinder gerne und viel spielten. Nur eine Ecke mieden wir lieber, denn dort lebte in einer selbstgebauten Waldhütte ein alter Mann. Er trug stets viel zu große Gummistiefel und eine Augenklappe, wie wir sie aus Piratenfilmen kannten.
Etliche Bäume im Wald hatte er mit einer Schablone und Farbe beschriftet. Die Bäume zierte derselbe Spruch wie das Sweatshirt, das er stets über seinem karierten Hemd trug, wenn er mit dem klapprigen Fahrrad in die Stadt fuhr und dort auf der Schreibmaschine getippte Flugblätter verteilte: „Freiheit für Rudolf Hess!“.
NS-Symbole auf Finanzamt-Fenstern
Als Jugendlicher sparte ich dann wie meine Klassenkameraden auf den Führerschein. Zu diesem Zweck putzte ich in den Sommerferien Fenster. Auch das Finanzamt gehörte zu den Kunden meines Arbeitgebers. Ich war aber so ziemlich der einzige, der dort zu dieser Zeit tatsächlich arbeitete, denn die Finanzbeamten saßen alle in einem der Büros versammelt um einen kleinen Fernseher (es war gerade Fußball-WM).
In einem Akten-Abstellraum fiel mir dann vor Entsetzen fast der Wischer aus der Hand: die Scheiben mehrerer Außenfenster zierte noch immer das ins Glas geätzte NS-Symbol der Deutschen Arbeitsfront – das Hakenkreuz im Zahnrad. Ich bedauere es bis heute, die Scheiben nicht eingeschlagen zu haben.
Kissingers Erbe in Bensheim
Womit wir wieder bei Henry Kissinger wären. Kissinger wuchs im fränkischen Fürth auf. 1938 floh er als 15-Jähriger mit seiner Familie vor den Nazis in die USA. 1943 wurde er amerikanischer Staatsbürger, und kehrte als US-Soldat in sein Geburtsland zurück. Auch nach Kriegsende blieb er zunächst in Deutschland.
Er arbeitete für die Counter Intelligence Corps (CIC) im südhessischen Bensheim, deren Aufgabe es war, Kriegsverbrechen aufzuklären und die Entnazifizierung voranzutreiben. In dieser Funktion war er mit umfangreichen Befugnissen ausgestattet. Der Historiker Thomas Alan Schwartz bezeichnet Kissinger in seinem Buch als „Alleinherrscher von Bensheim“.
Verblüffend: Von Kissingers Zeit in Bensheim lese ich jetzt, anlässlich seines 100. Geburtstags, tatsächlich das erste Mal. Dabei bin ich dort 13 Jahre zur Schule gegangen – es fand nicht einmal im Unterricht Erwähnung. In Bensheim wollte man von seinem sicherlich prominentestem Befreier und Nazijäger wohl lieber nichts wissen. Oder hat es wieder vergessen. So wie die Hakenkreuze in den Finanzamt-Fenstern, oder das Hitler-Relief in der Hofmauer.
Eine andere Patientin war nicht ganz so alt, aber alt genug, um als junge Frau das Kriegsende 1918 mitzuerleben. Im Frankfurter Hauptbahnhof wurde sie Zeugin, wie rivalisierende Arbeiter- und Soldatenräte sich wechselseitig entwaffneten. Im ansonsten eher freudlosen Zivildienst waren diese Begegnungen mit Zeitzeuginnen spannende und faszinierende Lichtblicke.
Aber mit der Erinnerung ist das in Deutschland ja so eine Sache. In dem Dorf, in dem ich aufwuchs, gab es einen Bauernhof, der von einer Mauer umgeben war. Wenn wir Kinder uns auf einen Grenzstein stellen, reichten wir gerade so über die Mauer hinweg und konnten einen alten Dachziegel beiseiteschieben, unter dem ein Bronzerelief Adolf Hitlers notdürftig verborgen wurde.
Das Dorf war vom Odenwald umgeben, in dem wir als Kinder gerne und viel spielten. Nur eine Ecke mieden wir lieber, denn dort lebte in einer selbstgebauten Waldhütte ein alter Mann. Er trug stets viel zu große Gummistiefel und eine Augenklappe, wie wir sie aus Piratenfilmen kannten.
Etliche Bäume im Wald hatte er mit einer Schablone und Farbe beschriftet. Die Bäume zierte derselbe Spruch wie das Sweatshirt, das er stets über seinem karierten Hemd trug, wenn er mit dem klapprigen Fahrrad in die Stadt fuhr und dort auf der Schreibmaschine getippte Flugblätter verteilte: „Freiheit für Rudolf Hess!“.
Als Jugendlicher sparte ich dann wie meine Klassenkameraden auf den Führerschein. Zu diesem Zweck putzte ich in den Sommerferien Fenster. Auch das Finanzamt gehörte zu den Kunden meines Arbeitgebers. Ich war aber so ziemlich der einzige, der dort zu dieser Zeit tatsächlich arbeitete, denn die Finanzbeamten saßen alle in einem der Büros versammelt um einen kleinen Fernseher (es war gerade Fußball-WM).
In einem Akten-Abstellraum fiel mir dann vor Entsetzen fast der Wischer aus der Hand: die Scheiben mehrerer Außenfenster zierte noch immer das ins Glas geätzte NS-Symbol der Deutschen Arbeitsfront – das Hakenkreuz im Zahnrad. Ich bedauere es bis heute, die Scheiben nicht eingeschlagen zu haben.
Womit wir wieder bei Henry Kissinger wären. Kissinger wuchs im fränkischen Fürth auf. 1938 floh er als 15-Jähriger mit seiner Familie vor den Nazis in die USA. 1943 wurde er amerikanischer Staatsbürger, und kehrte als US-Soldat in sein Geburtsland zurück. Auch nach Kriegsende blieb er zunächst in Deutschland.
Er arbeitete für die Counter Intelligence Corps (CIC) im südhessischen Bensheim, deren Aufgabe es war, Kriegsverbrechen aufzuklären und die Entnazifizierung voranzutreiben. In dieser Funktion war er mit umfangreichen Befugnissen ausgestattet. Der Historiker Thomas Alan Schwartz bezeichnet Kissinger in seinem Buch als „Alleinherrscher von Bensheim“.
Verblüffend: Von Kissingers Zeit in Bensheim lese ich jetzt, anlässlich seines 100. Geburtstags, tatsächlich das erste Mal. Dabei bin ich dort 13 Jahre zur Schule gegangen – es fand nicht einmal im Unterricht Erwähnung. In Bensheim wollte man von seinem sicherlich prominentestem Befreier und Nazijäger wohl lieber nichts wissen. Oder hat es wieder vergessen. So wie die Hakenkreuze in den Finanzamt-Fenstern, oder das Hitler-Relief in der Hofmauer.
30. Mai 2023, 14.15 Uhr
Jonas Lohse
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