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Kolumne: Ab nach Kassel!
Wenn Kassel Rot sieht
... dann hat wohl jemand wieder eine Lampe angemacht und die Stühle rausgestellt. Seit unser Redakteur Andreas Dosch Nordhessens Hauptstadt zum neuen Lebensmittelpunkt erkor, jagt ein Event das nächste. Hier seine ganz persönliche Bestandsaufnahme.
Ich feiere es, in Kassel zu sein! Wenn ich diese Worte nach einem Dreivierteljahr Ahle-Wurscht-Metropolendasein mit Fug und Recht von mir geben darf, dann liegt das nicht nur am mittlerweile auch körperlich spürbaren Erholungsfaktor von vielen Jahrzehnten Frankfurter Stadt- und Fluglärm-Mief. Es hat auch damit zu tun, dass die Kasseler (so heißen Zugezogene, also ich), Kasselaner (Eingeborene) und Kasseläner (ältere Familienstämme) eines wirklich gut können, außer Gehacktes in sich reinzustopfen und an jeder Ecke Verkehrsbehinderungen zu verursachen: Das Völkchen hier, es weiß zu feiern. Und zwar so richtig, das ganze Jahr hindurch, zu jeder Gelegenheit. Und gibt es mal keine, dann macht man sich eben eine.
„Zissel“: ein überdimensionaler Kunststoff-Hering und „Fullewasser, Fullewasser, hoi hoi hoi!“
Los geht‘s im April mit einem einmonatigen Rummel namens „Frühlingsfest“ am Platz der Deutschen Einheit, auch „Todeskreisel“ genannt und von allen gefürchtet (der Kreisel, nicht die Gaudi). Auch im Frühjahr, dazu noch im Spätherbst findet die „Kasseler Freyheit“ statt: Wird als „Fest der Gaukler und Artisten“ beworben, handelt sich im Grunde aber um einen verkaufsoffenen Sonntag mit Karussell, Fressbuden, Riesenrad und zwei mittelalterlich ausstaffierten Stelzenläufern. Oder das „Kasseler Gartenfest“: Lecker Essen und Trinken im Grünen. „Herbstzauber in der Karlsaue“: dito, allerdings mit Illumination. „LichtWege in den Weinbergterrassen“: ebenso. Die „Wehlheider Kirmes“: geselliger Alteingesessenen-Treff inklusive Stammtisch, Blaskapelle, Umzug. Humtata! „Winterzauber in der Orangerie“: vorgezogener Weihnachtsmarkt mit Verkaufsständen, kostet Eintritt, völlig überlaufen.
Und dann wäre da selbstverständlich noch der Platzhirsch unter Kassels Öffentlichkeitsbelustigungen, the one and only „Zissel“: quasi Nordhessens Dippemess, aber schöner gelegen (am Fluss). Hier wird traditionell ein überdimensionaler Kunststoff-Hering gehisst, von manch fischmäßig unbedarftem Kleinkind auch als „Hai“ bezeichnet, während alle lauthals „Fullewasser, Fullewasser, hoi hoi hoi!“ skandieren, und das gleich mehrfach hintereinander. Klingt für Auswärtige reichlich sonderbar, muss man einfach erlebt haben. Auch das gastronomische Angebot lässt nichts zu wünschen übrig. Auf welchem Volksfest gibt es sonst schon gebratene Heuschrecken? Nicht, dass sie jemand hier probieren würde. Man greift doch lieber zur ... Sie ahnen es: Wurscht!
Wie wäre es, wenn wir die Parkanlagen rund ums Schloss Wilhelmshöhe in viele bunte Lichter tauchen?
Tatsache jedenfalls: Verhungern und verdursten tut hier keiner mit dem nötigen Kleingeld. Und wem oft und gerne ein Lichtlein aufgeht, der ist ebenfalls goldrichtig, denn es wird – wie bereits erwähnt – an vielen ausgewählten Orten bemerkenswert oft herumilluminiert. So etwa beim „Bergparkleuchten“, mit dem ich mich an dieser Stelle etwas näher befassen möchte: Nicht genug damit, dass es die Stadt mit Wäldern, Wiesen und Wasserspielen (beleuchtet!) bis zum Weltkulturerbe geschafft hat (Ergebnis: noch mehr Staus). Nun dachte sich das findige Stadtmarketing: Wenn wir die zweifelsohne imposanten Parkanlagen rund um unser Schloss Wilhelmshöhe einfach mal in viele bunte Lichter tauchen, ein paar Kunstobjekte aufstellen, Bier und (hauptsächlich junge) Würschte verkaufen und für das Ganze auch noch Geld verlangen, dann verdienen wir fürstlich, während die Menschen uns die Bude einrennen. Voilà: Win-win-Situation. Und ja: hat tatsächlich geklappt!
Am ersten Oktoberwochenende begab es sich also, dass es Einheimische und Auswärtige in Scharen hoch in die von emsigen Landgrafen in Auftrag gegebenen Grünanlagen zu Füßen des mächtigen Herkules zog – und wie durch ein Wunder blieb sogar das erwartete Verkehrschaos aus! Beim ersten noch kostenfreien Bergparkleuchten-Probelauf im Vorjahr war es zum völligen Zusammenbruch gekommen. Gute Kritiken also, mega Veranstaltung, amazing?
Artgeschütze Fledermäuse in den eigens fürs Areal entworfenen Grotten
Nun ja, nicht ganz: Man hatte seine Rechnung ohne die Fledermäuse gemacht. Fledermäuse? Gibt es da oben überhaupt welche? Besser mal nachgucken: Ein kurzfristig vor Veranstaltungsbeginn einberufener Erkundungstrupp zog los, durchforstete das weitläufige Gelände und – „Hey, kommt mal alle her, ich habe welche!“ – entdeckte in den eigens fürs Areal entworfenen Grotten tatsächlich diverse Exemplare. Nun ist es aber so, das laut Artenschutzverordnung die fliegenden Sauger ab Punkt 1. Oktober von 23 Uhr bis zum Morgengrauen besonderen Schutz genießen, daher in ihrem Tun (also: herumfliegen und Insekten fangen) nicht gestört werden dürfen. Erst recht nicht von gleißendem Licht in schillerndsten Farben: Blau, zum Beispiel, geht gar nicht.
Kurzum, es mussten in Windeseile Fachleute ran, um das ursprünglich geplante Farbkonzept neu zu programmieren. Wer sich also beim Besuch des Bergparkleuchtens zu Recht wunderte, warum vor allem Rottöne dominierten: wegen der Flattermänner. „Hätten wir das vorher gewusst, wäre das Event Ende September terminiert worden“, hieß es sodann von verantwortlicher Seite sinngemäß und etwas hilflos. Tja, Onkel Naturschutz hatte hier das letzte Wort, sehr zum Verdruss anwesender Besucher und Gastronomen. Auch der Herkules guckte recht verdrießlich drein, als er so mir nichts, dir nichts um 11 Uhr abends abgeschaltet wurde („Hey, spinnt Ihr da unten?“). Dennoch: Kassel sieht Rot – schön war’s ja trotzdem.
Wenigstens gibt es in Kassel keine explodierenden Glühweinbecher
Und nun harre ich der vielen Dinge, die da kommen, ob Feste oder lose, während ich auf dem hiesigen „Märchenweihnachtsmarkt“ dieses ereignisreiche Jahr Revue passieren lasse. Wenigstens haben wir hier keine explodierenden Glühweinbecher. Dafür aber einen fliegenden Weihnachtsmann. Und Lumumba. Darauf stoßen wir an, liebes Frankfurt! Man sieht sich 2025.
Info
Unser Autor lebte viele Jahrzehnte im Rhein-Main-Gebiet, bevor es ihn 2024 in die nordhessische Hauptstadt verschlug – zum Unverständnis mancher Zeitgenossen.
In unregelmäßigen Abständen wird er darüber berichten, was es in Kassel neben Weltkultur und Waschbären noch so alles zu entdecken gibt – und warum Frankfurt (für ihn) da nicht mithalten kann.
Los geht‘s im April mit einem einmonatigen Rummel namens „Frühlingsfest“ am Platz der Deutschen Einheit, auch „Todeskreisel“ genannt und von allen gefürchtet (der Kreisel, nicht die Gaudi). Auch im Frühjahr, dazu noch im Spätherbst findet die „Kasseler Freyheit“ statt: Wird als „Fest der Gaukler und Artisten“ beworben, handelt sich im Grunde aber um einen verkaufsoffenen Sonntag mit Karussell, Fressbuden, Riesenrad und zwei mittelalterlich ausstaffierten Stelzenläufern. Oder das „Kasseler Gartenfest“: Lecker Essen und Trinken im Grünen. „Herbstzauber in der Karlsaue“: dito, allerdings mit Illumination. „LichtWege in den Weinbergterrassen“: ebenso. Die „Wehlheider Kirmes“: geselliger Alteingesessenen-Treff inklusive Stammtisch, Blaskapelle, Umzug. Humtata! „Winterzauber in der Orangerie“: vorgezogener Weihnachtsmarkt mit Verkaufsständen, kostet Eintritt, völlig überlaufen.
Und dann wäre da selbstverständlich noch der Platzhirsch unter Kassels Öffentlichkeitsbelustigungen, the one and only „Zissel“: quasi Nordhessens Dippemess, aber schöner gelegen (am Fluss). Hier wird traditionell ein überdimensionaler Kunststoff-Hering gehisst, von manch fischmäßig unbedarftem Kleinkind auch als „Hai“ bezeichnet, während alle lauthals „Fullewasser, Fullewasser, hoi hoi hoi!“ skandieren, und das gleich mehrfach hintereinander. Klingt für Auswärtige reichlich sonderbar, muss man einfach erlebt haben. Auch das gastronomische Angebot lässt nichts zu wünschen übrig. Auf welchem Volksfest gibt es sonst schon gebratene Heuschrecken? Nicht, dass sie jemand hier probieren würde. Man greift doch lieber zur ... Sie ahnen es: Wurscht!
Tatsache jedenfalls: Verhungern und verdursten tut hier keiner mit dem nötigen Kleingeld. Und wem oft und gerne ein Lichtlein aufgeht, der ist ebenfalls goldrichtig, denn es wird – wie bereits erwähnt – an vielen ausgewählten Orten bemerkenswert oft herumilluminiert. So etwa beim „Bergparkleuchten“, mit dem ich mich an dieser Stelle etwas näher befassen möchte: Nicht genug damit, dass es die Stadt mit Wäldern, Wiesen und Wasserspielen (beleuchtet!) bis zum Weltkulturerbe geschafft hat (Ergebnis: noch mehr Staus). Nun dachte sich das findige Stadtmarketing: Wenn wir die zweifelsohne imposanten Parkanlagen rund um unser Schloss Wilhelmshöhe einfach mal in viele bunte Lichter tauchen, ein paar Kunstobjekte aufstellen, Bier und (hauptsächlich junge) Würschte verkaufen und für das Ganze auch noch Geld verlangen, dann verdienen wir fürstlich, während die Menschen uns die Bude einrennen. Voilà: Win-win-Situation. Und ja: hat tatsächlich geklappt!
Am ersten Oktoberwochenende begab es sich also, dass es Einheimische und Auswärtige in Scharen hoch in die von emsigen Landgrafen in Auftrag gegebenen Grünanlagen zu Füßen des mächtigen Herkules zog – und wie durch ein Wunder blieb sogar das erwartete Verkehrschaos aus! Beim ersten noch kostenfreien Bergparkleuchten-Probelauf im Vorjahr war es zum völligen Zusammenbruch gekommen. Gute Kritiken also, mega Veranstaltung, amazing?
Nun ja, nicht ganz: Man hatte seine Rechnung ohne die Fledermäuse gemacht. Fledermäuse? Gibt es da oben überhaupt welche? Besser mal nachgucken: Ein kurzfristig vor Veranstaltungsbeginn einberufener Erkundungstrupp zog los, durchforstete das weitläufige Gelände und – „Hey, kommt mal alle her, ich habe welche!“ – entdeckte in den eigens fürs Areal entworfenen Grotten tatsächlich diverse Exemplare. Nun ist es aber so, das laut Artenschutzverordnung die fliegenden Sauger ab Punkt 1. Oktober von 23 Uhr bis zum Morgengrauen besonderen Schutz genießen, daher in ihrem Tun (also: herumfliegen und Insekten fangen) nicht gestört werden dürfen. Erst recht nicht von gleißendem Licht in schillerndsten Farben: Blau, zum Beispiel, geht gar nicht.
Kurzum, es mussten in Windeseile Fachleute ran, um das ursprünglich geplante Farbkonzept neu zu programmieren. Wer sich also beim Besuch des Bergparkleuchtens zu Recht wunderte, warum vor allem Rottöne dominierten: wegen der Flattermänner. „Hätten wir das vorher gewusst, wäre das Event Ende September terminiert worden“, hieß es sodann von verantwortlicher Seite sinngemäß und etwas hilflos. Tja, Onkel Naturschutz hatte hier das letzte Wort, sehr zum Verdruss anwesender Besucher und Gastronomen. Auch der Herkules guckte recht verdrießlich drein, als er so mir nichts, dir nichts um 11 Uhr abends abgeschaltet wurde („Hey, spinnt Ihr da unten?“). Dennoch: Kassel sieht Rot – schön war’s ja trotzdem.
Und nun harre ich der vielen Dinge, die da kommen, ob Feste oder lose, während ich auf dem hiesigen „Märchenweihnachtsmarkt“ dieses ereignisreiche Jahr Revue passieren lasse. Wenigstens haben wir hier keine explodierenden Glühweinbecher. Dafür aber einen fliegenden Weihnachtsmann. Und Lumumba. Darauf stoßen wir an, liebes Frankfurt! Man sieht sich 2025.
Unser Autor lebte viele Jahrzehnte im Rhein-Main-Gebiet, bevor es ihn 2024 in die nordhessische Hauptstadt verschlug – zum Unverständnis mancher Zeitgenossen.
In unregelmäßigen Abständen wird er darüber berichten, was es in Kassel neben Weltkultur und Waschbären noch so alles zu entdecken gibt – und warum Frankfurt (für ihn) da nicht mithalten kann.
12. Dezember 2024, 10.13 Uhr
Andreas Dosch
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