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Foto: Lena Obst
Foto: Lena Obst

Frankfurter Winterreise

Leben auf der Straße

Schuberts „Winterreise“ ein Idyll? Mitnichten. Auch der Franz übte 1827 schon Sozialkritik. Am 22. Januar wird der Liederzyklus wie auch „Die schöne Müllerin“ als Kunstprojekt aufgeführt. Das JOURNAL sprach mit Initiator Stefan Weiller.
JOURNAL FRANKFURT: Die Meisten mögen mit der „Winterreise“ von Franz Schubert gedanklich ein romantisches Idyll verbinden, googelt man dann allerdings bei Wikipedia, findet man schon da die Anmerkung, Schubert habe „auch ganz bewusst und gezielt subtile Kritik am herrschenden System geübt“. War das ein Grund für die Wahl der Lieder, um sie in die aktuelle Zeit zu holen und mit dem Leben auf der Straße in Verbindung zu bringen?

Stefan Weiller: Die gesellschaftskritische, ja fast politische Dimension und das soziale Thema sind in der „Winterreise“ drin. Das war 1827 wohl schon so aktuell wie es heute noch ist. Das Thema Wohnungslosigkeit und die Frage, wo schlafe ich heute Nacht, steht im Lied „Rast“ sogar wörtlich beschrieben. Da heißt es „In eines Köhlers engem Haus hab' Obdach ich gefunden“. Es wird also die Wanderung eines Menschen beschrieben wird, der für eine kurze Rast für eine Nacht irgendwo unterkommt. Insofern liegt es sehr nahe, diese Themen aus Schuberts „Winterreise“ herauszuarbeiten. Man kann Schubert übrigens unterstellen, dass Unterhaltung nicht das war, was er im Sinne hatte, weil er seine „Winterreise“ in seinen Kreisen als Kranz schauerlicher Lieder vorgestellt hat, das schlechteste Marketing, das man betreiben kann, wenn man Leute dazu bringen möchte etwas anzuhören. Aber er hatte ja recht – es waren schauerlich-schöne, ergreifende und auch erschütternde Lieder.

Die alten Lieder haben auch heute noch mit uns als Menschen zu tun. In den Liedern sind viele moderne Anknüpfungspunkte zu finden, auch in „Die schöne Müllerin“, dem anderen Schubert-Zyklus. Da geht es um die unerfüllte Liebe eines Menschen, der alles Mögliche probiert, sich vieles erhofft und einbildet, aber dann doch an seinem Stand scheitert und an seinen Sehnsüchten zugrunde geht. Es gibt eine Verbindung zum Projekt „Winterreise“. Viele Menschen, die ich auf der Straße kennengelernt habe, sind in Folge einer unerfüllten Hoffnung, einer unerfüllten Sehnsucht nach Liebe, zum Beispiel nach Tod oder Trennung von einem Partner auf die Straße geraten. Manche Menschen verkraften diese Schicksalsschläge nicht und geraten aus Trauer um den Verlust an den sozialen Rand.

Trotz der Aktualität der Inhalte kam man ja nicht auf die Idee, die beiden Zyklen, die die Frankfurter ja an einem Nachmittag hintereinander erleben dürfen, einen klassischen Liederabend daraus zu machen, sondern mit den Schauspielern noch andere Genres einzubinden. Wahrscheinlich ist es eher eine freie Adaption ...

So frei ist sie gar nicht. Es ist in allen Momenten Schubert....

Nur teilweise mit anderen Mitteln?

Die Lieder werden mit Texten verbunden, die ich aus Interviews mit obdachlosen Menschen ich in jahrelangen Recherchen in Frankfurt und einigen anderen Städten zusammengetragen habe. Ich habe Menschen auf Straße, auf der Flucht und Frauen in Frauenhäusern nach ihrem Leben befragt. Und es ist erstaunlich wie sich die Geschichten von heute mit den Liedern von damals verbinden. Außer Text und Musik gibt es noch eine Bildebene von Video-Künstler Ralf Kopp.

Und das wird dann quasi collagiert und da kommen die Schauspieler als Sprecher ins Spiel ...

Genau. Der Einsatz der künstlerischen Mittel unterscheidet sich von Projekt zu Projekt. Es ist nicht so: hat man „Die schöne Müllerin“ gesehen, also kann man sich die „Winterreise“ schenken. Vielmehr öffnet jedes Projekt einen ganz eigenen, neuen Erfahrungshorizont.

Wir arbeiten ja nicht mit Blaupausen wie bei Modern Talking wo sich alles wiederholt ... Man nimmt natürlich jede Vorlage, um andere Facetten darzustellen ...

Das ist durchaus richtig beschrieben.

Das ist ja ein Projekt, das bundesweit präsent ist, nicht nur eines von einem Frankfurter für Frankfurter über Frankfurter ...

Ich war bis jetzt in 29 Städten mit der „Winterreise“, mein Projekt „Müllerin“ ist jünger, da sind es bisher erst vier Städte. Die „Winterreise“ war auch schon zwei Mal in Stockholm und einmal in Luxemburg. Es kommen Rufe aus angrenzenden Ländern. Die Reise geht weiter, macht aber wahrscheinlich zum letzten Mal Station in Frankfurt.

Wer fühlt sich bei der Thematik als Veranstalter angesprochen, eher kirchliche und staatliche Institutionen als klassischen Kultureinrichtungen?

Es mischt sich, aber ich brauche immer einen sozialen Träger in der Stadt, in der ich zu Gast bin. In diesem Fall ist das die Diakonie Frankfurt, die gegenüber Kulturprojekten sehr offen ist. Ich komme nur auf Einladung in die sozialen Einrichtungen, führe dort Interviews mit Menschen in sozial schwierigen Lebensbedingungen und schreibe danach die Texte für die Aufführungen.

Die werden also im Vorfeld der Auftritt geschrieben und dann direkt eingearbeitet wie Samples ...

Alles wird miteinander durchflochten. Texte und Musik durchdingen einander in der Aufführung. Neue, spannende Sinnzusammenhänge können gefunden werden.

Das ist sicher ganz wichtig, dass man das nicht epochenmäßig auseinanderdividiert und auch musikalisch stilistisch nicht, wenn z.B. Jazz ins Spiel kommt. Wenn man sich da öffnet, lassen sich Zusammenhänge herstellen, die viele nicht vermutet hätten, dass die hehre Klassik was mit dem normalen Leben heute zu tun haben könnte ...

Wobei bei Franz Schubert ja ganz deutlich wird, dass er musikalische Traditionen aufgreift, aber immer wieder auch neue Ausdrucksformen erfindet. Ich finde, er war der erste Jazzmusiker, wenn man sich ein Stück wie „Letzte Hoffnung“ anhört, liegt dieser Gedanke nicht fern. Aber auch der Popsong in perfekter Länge von 2:30 Minuten, das war auch Schubert.

Jetzt machen wir aber die ganzen Klassikverwalter kirre ...

Das können sie trotzdem gut aushalten. Es gibt ja auch Puristen, die sagen, Frauen sollten „Winterreise“ nicht singen. Das ist aus meiner Sicht völliger Quatsch. Die Gefühle, die hier beschrieben werden, tragen Frauen, Männer und alle Menschen dazwischen gleichermaßen in sich.

Es gibt eine wunderbare, von einer Frau gesungene Version des „Leiermann“ von einer Band namens Moriarty. Bekannte wurde natürlich die Version von Sting ...

Der „Leiermann“ ist sehr oft interpretiert wurden, leider nicht immer zum Gewinn des Stückes, manchmal klang es etwas buttrig und satt. Bei uns ist er eher mager und schütter und wird von Eva Mattes ganz anrührend gesungen. Wir haben auch zwei Friedrich Hollaender-Lieder mit der „Müllerin“ in Verbindung gebracht, die ebenfalls von Eva Mattes interpretiert werden. Das ist hochspannend. Mit dem Zwischenschritt 100 Jahre weiter.

Was von Hollaender?

Das „Currendemädchen“ und ein Stück „Wenn ick mal tot bin“. Das wird wunderschön in seiner bizarren und humorvollen Todessehnsucht.

Mit dem Stichwort Sting kam mir gerade der Begriff des Gutmenschen in den Kopf, sein und auch Bonos Engagement. Die Megastars tun sich ja immer hervor mit ihrer sozialen Ader, auch unter den Schauspielern. Bei vielen fragt man, machen die das, wie´s ihnen gut zu Gesicht steht. Bei diesen Projekten hier war es sicher ganz wichtig wer koppelt da rück und vor allem aus welche Antrieb? Wir sprechen hier ja auch von großen Namen, Leslie Malton und Felix von Manteuffel neben Mattes, Menschen, deren Integrität man nicht in Frage stellen muss ... Wie spricht man die Leute an, wie reagieren die darauf?

Ich gehe über den Stimmklang und gar nicht so sehr nach Popularität. Ich bin zum Beispiel ein großer Bewunderer von Jens Harzer, ein toller Schauspieler, ein toller Sprecher, der in der ganz breiten Masse vielleicht nicht ganz so populär ist. Ich spreche die Leute mit einem künstlerischen Konzept an, das sie hoffentlich überzeugt, und ich erkläre, warum ich ausgerechnet ihre Stimme in dem Projekt höre. Meine Anfragen an Künstler erfolgen nie beliebig und ich freue mich über einen tollen Rücklauf. Ich spreche immer nur einen Künstler an, nie mehrere auf einmal - und hoffe dann, dass ein Wunder passiert. Im Falle von Eva Mattes und auch Leslie Malton ist dieses Wunder geschehen. Die Künstler machen das nicht für mich, sondern wegen des Themas, das ein Wichtiges ist, wenn man mitkriegt, dass Obdachlose immer auch mal wieder angezündet, abgeurteilt und ausgegrenzt werden. Weil solche Dinge geschehen, ist es den Künstlern ein Anliegen, sicherlich auch mit ihrer Popularität, aber viel mehr mit ihrem Talent und ihrer Sensibilität dem Thema einen Ausdruck zu geben. Das dokumentarische Projekt will aber in erster Linie erzählen, statt zu belehren.

Eine Besonderheit ist aber, dass ich die Menschen, die ich interviewe, nicht an die Öffentlichkeit bringe. Jeder darf anonym seine Geschichte erzählen, ohne dass er mit Gesicht und Namen bekannt werden muss. Die meisten meiner Gesprächspartner wollen im Verborgenen bleiben, finden es aber wichtig und toll, dass das, was sie erlebt haben, von bekannten Leuten interpretiert und an die Öffentlichkeit gebracht wird.

Weil sie ihnen so eine Stimme verleihen und kraft ihrer Kunst in die Rollen, Personen schlüpfen können und es ihnen nicht um ihr Ego geht ...

Das ist den Künstlern, die in meinen Projekten mitmachen, nicht wichtig, sie legen keinen Wert darauf, dass ihr Name im Vordergrund steht, im Sinne von „seht was ich hier tue“. Manchen wäre das regelrecht unangenehm. Sie machen es für das Thema, weil sie es künstlerisch und im sozialen Anspruch gut finden, aber nicht um sich selbst nach vorne zu stellen. Ich habe ein anderes Projekt, da ist Christopher Maria Herbst dabei, er ist ungeheuer bescheiden und will gar nicht, dass da viel über seinen Namen läuft.

Eine große Freude ist es, Petra Woisetschläger mit ihrem Duo Fragile mal wieder mit Leslie Malton und Felix von Manteuffel zu erleben, die schon einmal zusammen in den Kammerspielen Briefe von Mendelssohn Bartholdy lasen und vertonten. Woisetschläger kam zum Projekt von Marlene Breuer, weil eine klassische geschulte und versierte Pianistin gesucht wurde, die auch improvisieren konnte was so oft nicht finden ist. Und jetzt wurde sie auch noch freundlich überredet Schubert zu singen, eine ganz neue Erfahrung für sie.

Das war mein großer Wunsch, dass sie sich einige Stücke vornehmen und bearbeiten. Das alleine ist schon den Besuch der Veranstaltung wert. Ich bin davon überzeugt, dass es künstlerisch absolut hochwertig wird auch auf der musikalischen Seite. Mit Theodore Browne ist ein Tenor dabei, der gerade vor vier Wochen in Berlin beim Bundeswettbewerb Gesang den gemeinsamen Preis der Deutschen Oper Berlin, Komischen Oper Berlin und Staatsoper im Schiller Theater gewonnen hat und auf dem Sprung zur wirklichen großen Karriere steht. Der Pianist Hedayet Djeddikar arbeitet in Frankfurt an der Musikhochschule und ist ein Spezialist für Schubert. Und es kommen ungewöhnliche Instrumente zum Einsatz wie etwa Harfe, Orgel, Kontrabass.

Ich hoffe, dass viele Leute kommen und die Chance ergreifen, das Projekt zu erleben, weil es die Aufführung in dieser Form nur einmal geben wird. Als Doppelkonzert hat das meines Wissens noch keiner gewagt, die „Müllerin“ und die „Winterreise“ an einem Tag aufzuführen. Es braucht ein bisschen Kondition, es ist ein spannendes Projekt, das – trotz der geschilderten sozialen Härten – durchaus genossen werden kann, weil es sehr viel über unser Leben sagt und viel mitgibt. Im Theater hätte ich keine Bedenken, dass die Leute bis zum Ende bleiben und sich beides anschauen, aber hier beim freiem Eintritt bleibt die Frage, wieviele Menschen bleiben und sich einlassen auf die Geschichten von Frankfurts Straßen. Das Programm umfasst zwei Mal 95 Minuten mit einer Pause, die aber bewirtet ist.
Kultur erleben, aktuelle Stadtgeschichten erfahren und dann noch die Chance haben, mit einer Spende für die Wohnungslosenhilfe des Diakonischen Werks für Frankfurt etwas Gutes zu tun und das in Verbindung mit herausragend tollen Künstlern – wer da nicht kommt, versäumt etwas.

>> Die schöne Müllerin/Frankfurter Winterreise, Ffm, Heiliggeistkirche, 22.1., 16 Uhr/18.30 Uhr, Eintritt frei, Spenden erbeten
 
6. Januar 2017, 13.04 Uhr
Detlef Kinsler
 
 
Fotogalerie: Webbonus Winterreise
 
 
 
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