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Demokratie gestalten

„Very Fast Fashion“: eine Flut an Billigtextilien

Etwa zwei Milliarden Textilien kommen jedes Jahr aus Asien nach Europa und junge Menschen gewöhnen sich an derartigen Konsum – mit erheblichen Folgen für die Umwelt.
Die Reportage „Le Chaim“ des Hessischen Rundfunks über jüdisches Leben im Bahnhofsviertel hat uns Frankfurtern wieder das Treiben im Pelzviertel der Niddastraße in Schwarz-Weiß-Filmen der 1960er-Jahre in Erinnerung gebracht. Ferne Vergangenheit. In den 1980ern wurde innerhalb weniger Jahre der Pelzhandel zum Erliegen gebracht: von einer Tierschutzlobby zunächst als Verbot des Handels mit den Fellen seltener Tiere gefordert, usurpierte die Bewegung die Volksmeinung und brachte ihn damit endgültig zur Strecke – Konsumzurückhaltung gegründet auf Überzeugungsarbeit.

Meinungsbilder, die zunächst nur einem moralischen Kompass folgen, dem Common Sense der Zeit aber widersprechen, benötigen lange, bis sie sich durchsetzen und mehrheitsfähig werden: Abschaffung der Sklaverei 50 bis 100 Jahre, Opiumanbau in Britisch-Indien – mehr als 100 Jahre, Abschaltung der Atomkraftwerke – 50 Jahre.

Staatliche Passivität fördert „Very Fast Fashion“

Breite Bewusstseinsänderungen gehen der Änderung oder Aufhebung von Gesetzen voran: §§ 218 und 175 StGB wurden in der Rechtsprechung vernachlässigt oder aufgegeben, als die öffentliche Meinung das zunehmend einforderte – nicht umgekehrt. Wird dennoch versucht, ein Gesetz zu oktroyieren, das den selbstverstandenen Interessen des Volkes zuwiderläuft, scheitert es oft. Das Heizungsgesetz ist ein Beispiel dafür in jüngster Zeit. Es wurde als legal, nicht aber als legitim verstanden.

Interessanter ist jedoch dieser Fall: Ein vorgegebenes hehres Ziel – eben der alles überragende Schutz der Umwelt – wird durch unwidersprochenes, unbeeinflusstes Massenkonsumverhalten ad absurdum geführt und sogar durch staatliche Passivität gefördert: Very Fast Fashion. Durch riesige Volumina und den Zuspruch der Verbraucher bestimmt sie den Modemarkt im untersten Segment. Regelsetzungen der EU – insbesondere solche der Supply-Chain-Kontrolle – werden wirkungslos, wenn in Asien produzierende und nicht in Europa residierende Unternehmen wie Shein oder Temu mit zwischen angeblich 400  000 Teilen pro Tag und bis zu zwei Milliarden Teilen pro Jahr den europäischen Markt fluten.

Etwa 200 000 Pakete mit Kleidung kommen jeden Tag aus China nach Europa

Die Ware wird mit Postpaketen aus China direkt an den Verbraucher nach Deutschland geschickt. Importwerte pro Sendung liegen meist weit unter der Einfuhrzollgrenze von 150 Euro (Damenmode wird pro Teil zwischen 10 und 20 Euro angeboten, Brautkleider können auch 70 Euro kosten). Im Juni 2024 wurde durch das Europäische Parlament – „unterstützt“ durch Deutschland – der Ansatz gemacht, diesen Sendungen die Zollfreiheit zu entziehen. Wie das bei 200  000 Paketen pro Tag organisatorisch dargestellt werden soll oder ob eine zollbedingte Verdoppelung des dann immer noch sehr niedrigen Preises überhaupt einen Effekt haben kann, darf bezweifelt werden und ist bis jetzt nicht erläutert worden.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat gerade einen neuen Ansatz gemacht, Temu und Shein einzuhegen – allerdings nur mit der Zielsetzung, dass Verbraucher sich auf „sichere und unbedenkliche Produkte verlassen können“ müssen. Auch der Digital Services Act (DSA), der als der Heilige Gral des Verbraucherschutzes angesehen wird, schützt eben nur ihn oder sie, keinesfalls aber fordert er Beachtung von ESG-Kriterien (Environmental, Social and Governance) in der Herstellung. Temu/Shein müssten wegen ESG-Regelverletzungen angegriffen, ihr Tun zumindest durch Importrestriktionen reguliert werden – was nicht geschieht und damit Regelverletzungen zur Grundvoraussetzung dieses Geschäftsmodelles macht: „Produktsicherheit“ ist das Hauptaugenmerk politischer Entscheider, mitnichten jedoch ESG-konforme „Produktherstellung“.

Wieviel Jumbo Jets werden für zwei Milliarden Pakete benötigt?

Wie, zu welchen Lohnkosten und Arbeitsbedingungen die Produkte hergestellt, die verwandten Rohstoffe gewonnen wurden und was insbesondere mit diesen zwei Milliarden Bekleidungsstücken nach der üblich kurzen Nutzungsdauer geschehen soll (sie können nicht recycelt werden, da meist aus Kunstfasern bestehend), dazu gibt es zwar Fragen, aber keine Antworten und insbesondere keine effektiven regulatorischen Taten. Allein der Transport dieser Mengen an Einzelpaketen, die aufgrund der Liefergeschwindigkeit, die Teil des Produktversprechens ist, schnell – in 5 bis 10 Tagen – erfolgt, erfordert Luftfracht.

Wieviel Jumbo Jets werden für zwei Milliarden Pakete benötigt? 2 000 oder 20  000? Und Shein ist auf Expansionskurs: Gerade ist ein Börsengang (IPO) an der Londoner Börse in Vorbereitung, mit 61 Mrd. Pfund soll er der dort historisch größte werden (die London Stock Exchange wurde 1772 gegründet). Der ehemalige EU-Kommissar Günther Oettinger begleitet ihn „to navigate regulatory hurdles in Europe“ …

Zum politisch-rechtlichen Tolerieren von Praktiken, die eklatant gegen ESG-Grundsätze verstoßen, gehören auch weniger beachtete Strukturen, die die gleichen negativen Effekte zeitigen und von der volonté générale gefördert und gefordert werden:

Info
Markenschutz vs. „Souvenirs“
Eintragungen und Verteidigung von Markenzeichnen verschlingen hohe Summen, die mittelständische Unternehmen sehr belasten. Fälschungen solcher geschützter Markenprodukte können jedoch straffrei von Privaten bis zu einem Rechnungs-Wert von 430 Euro eingeführt werden – als „Souvenirs“.

Feuerwerk in der Silvesternacht:
Umweltbundesamt: Jährlich werden rund 2050 Tonnen Feinstaub (PM10), davon rund 1700 Tonnen PM 2,5 durch das Abbrennen von Feuerwerkskörpern freigesetzt, der größte Teil davon in der Silvesternacht. Diese Menge entspricht in etwa einem Prozent der insgesamt freigesetzten PM10-Menge in Deutschland.


Billigtextilien prägen zukünftige Preisvorstellungen

Die vormalige Umwelt-Dezernentin der Stadt Frankfurt, Rosemarie Heilig, meinte seinerzeit, man könne der Bevölkerung „nicht jeden Spaß nehmen“, bestätigt im Sommer 2024 durch ihre Nachfolgerin, die auf die Rechtslage verwies, die man nicht ändern könne. Es drängt sich die Wahrnehmung auf, in diesem politischen Handeln und insbesondere Unterlassen, einen Anspruch auf die Durchsetzung von Teilhabe zu erkennen: Konsumenten soll kein Sparverhalten aufgezwungen oder gar von ihnen moralisch erwartet werden. Diese Politik der stillschweigenden Duldung erweist sich als stärker als alle Behauptungen, die Umwelt schützen zu wollen, sie für zukünftige Generationen zu bewahren.

Ein gesamtwirtschaftliches Problem wird nicht einmal im Ansatz bedacht, thematisiert oder komplett verschwiegen: Billigtextilien, die in derartigen Massen auf den Markt kommen, sich faktisch ausschließlich an eine sehr junge Klientel richten, prägen deren zukünftige Preisvorstellungen. Diese „gelernten“ Preise setzen sich im Bewusstsein fest und bestimmen die Definition des Individuums für Preiswürdigkeit. Es wird künftig vergleichbare Produkte stets an diesem Preis/Wert-Verhältnis messen, auch wenn ESG-konform agierende europäische Produzenten nicht annähernd preisgleich anbieten können. Überdies, gerade durch eine McKinsey Studie bewiesen: Die fraglichen jungen Zielgruppen verlieren das Interesse an ESG-Regeln – jugendliche Schweden allen voran.

Der politische Hintergedanke mag sein, dass „Arme“ gleichen Produktgenuss haben sollen wie „Reiche“. Revolutionen haben meist ihren Ursprung in Teuerungen von „unverzichtbaren“ Waren. Dieser Gefahr wollen sich Politiker nicht aussetzen, sondern Wege finden, soziale Bedürfnisse zu befriedigen, die ihnen dringender erscheinen als der oft beschworene Schutzgedanke von ESG-Regularien. Das politische Kunststück ist es, dennoch die Behauptung glaubhaft verteidigen zu können, die Umwelt werde unter allen Umständen geschützt und bis zum Jahre X genesen sein. Dass die Kenntnis von Unredlichkeiten und Scheinheiligkeit in einem solchen Mikrosegment gedanklich schnell auf größere Felder projiziert wird, liegt nahe. Das Ergebnis sind Unglaubwürdigkeit, Politikverdrossenheit und Stimmenwanderungen zu Populisten.

Info
Zur Person: Andreas Mann war nach Ausbildung und Tätigkeit im Pelzhandel dreißig Jahre im Ostasiengeschäft mit Schwerpunkt Luxusgüter und Mode aktiv. Heute ist er kulturübergreifender Berater im Güteraustausch Asien – Deutschland. Er ist Mitgründer des Meisterkreis und der Deutschen Manufakturen.
 
26. November 2024, 10.43 Uhr
Andreas Mann
 
 
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