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Foto: Dominik Mentzos
Foto: Dominik Mentzos

Demokratie gestalten

Geistige Landkarte

Bei der Frage nach der Zukunft der Demokratie muss den neuen Dimensionen Europas Rechnung getragen werden. In seinem Gastbeitrag beschäftigt sich Vinzenz Hedinger dabei auch mit der Rolle der Geisteswissenschaften.
Am 24. Februar 2022 hat sich die Mitte Europas nach Osten verschoben. Mit einem Schlag machte der auf die Auslöschung der Ukraine zielende russische Angriffskrieg deutlich, dass zu Europa, zum demokratischen und nach Demokratie strebenden Europa, viel mehr gehört, als wir bislang wahrnehmen wollten. Die Distanz von Frankfurt nach Lviv ist dieselbe wie diejenige von Lviv nach Mariupol: 1300 Kilometer. Wenn wir uns, wie beim anstehenden Festival „Der Konflikt der Demokratien“ die Frage nach der Zukunft der Demokratie stellen und danach, welcher Form der Demokratie die Zukunft gehören soll, dann brauchen wir auch eine neue geistige Landkarte Europas, die diesen Dimensionen Rechnung trägt.

Wie bekommen wir eine solche geistige Landkarte? Wir bekommen sie, indem wir uns ein genaueres Bild machen. Wir müssen nach den Quellen des Freiheitswillens fragen, der die Menschen in Mittel- und Osteuropa antreibt und die Menschen in der Ukraine so entschlossen und erfolgreich gegen die russischen Aggressoren kämpfen lässt. Dafür brauchen wir mehr Wissen über die Geschichte und Kultur der Ukraine. Erst in den letzten dreißig Jahren ist die Geschichte der Ukraine, eines „Grenzlandes“, zur Geschichte eines nach Demokratie streben den Nationalstaats geworden. Zuvor war sie über Jahrhunderte eine Geschichte der Kolonisierung, durch das russische Zarenreich und seinen Nachfolger, die Sowjetunion, aber auch durch das nationalsozialistische Deutschland, das die Ukraine zur Kornkammer des „Lebensraums“ im Osten machen wollte und dafür Millionen von Menschenleben auszulöschen bereit war.

Solches Wissen produzieren nicht zuletzt die Geisteswissenschaften. Man denke an die vielen hervorragenden Spezialisten für Mittel- und Osteuropa in der Geschichtswissenschaft, in der Politikwissenschaft und den Sprach- und Kulturwissenschaften, die gerade in der Öffentlichkeit einen Wahrnehmungswandel herbeiführen. Kolleginnen wie Franziska Davies von der LMU München oder Jan C. Behrends von der Viadrina Universität in Frankfurt/Oder.

Zugleich gilt es, einen Vorbehalt anzumelden. Die Geisteswissenschaften sind in diesem Krieg nicht nur Beobachter. Sie tragen auch eine Verantwortung für den Krieg. Zum einen betrifft dies die Versäumnisse in der Aufarbeitung und Wahrnehmung der Geschichte und Kultur Mittel- und Osteuropas, zu denen eine fast ausschließliche Fixierung auf russische Sprache und Geschichte in slawistischen Instituten und in der Osteuropageschichte zählt. Versäumnisse, die unter anderem einen Nachhall finden in den „offenen Briefen“ deutscher Intellektueller und Künstler, die meinen über die Zukunft und Freiheit der Menschen in der Ukraine verfügen zu können, als hätten diese keine eigene Handlungsmacht als historische Subjekte, und die reden, als wäre die staatliche Ordnung Europas östlich der Oder etwas, was die Russen und die Deutschen untereinander ausmachen müssten.

Es gibt aber auch noch eine direktere Verantwortung der Geisteswissenschaften, über die Komplizenschaft hinaus, die aus Ignoranz entsteht. Zur russischen Führungsspitze zählen überdurchschnittlich viele Geisteswissenschaftler: Karriereoffiziere des Geheimdienstes, Diplomaten, Regierungssprecher, die Abschlüsse in Arabistik, Sinologie, Archäologie haben. Alles Studienfächer, die auch Herrschaftswissen vermitteln: Wissen, das schon im Zarenreich die interne Kolonisierung Russlands und die Einverleibung neuer Gebiete unterstützte; Wissen, das in der Sowjetunion eine wichtige Grundlage der globalen Einflussnahme bildete und nun für die politischen Ziele der russischen Föderation genutzt wird (die Kontinuitäten sind real; 60 Prozent von Putins innerem Führungszirkel haben Verbindungen zur Sowjet-Nomenklatura, wie eine aktuelle Studie zeigt).

Es sind auch solche Geisteswissenschaftler, die zu einem guten Teil für Russlands hybride Kriegsführung verantwortlich sind. Der hybride Krieg, wie ihn Russland vom Zaun gebrochen hat, ist eine Form der kulturellen Produktion. Er wird mit Armeen und zugleich mit Erzählungen, Figuren und Bildern geführt. Es sind Leute mit geisteswissenschaftlichem Hintergrund und literarischer und künstlerischer Bildung, die für die russische Sicht der mittelosteuropäischen Geschichte und Kultur verantwortlich sind, die im Krieg als Rechtfertigung der russischen Aggression dient. Bis hin zum Filmregisseur Nikita Mihalkov, einst Cannes-Sieger, jetzt regimetreuer Verächter der ukrainischen Sprache und Kultur. Es sind solche Leute, die als Zuträger des Regimes die gesellschaftlichen Widersprüche in Westeuropa und USA identifizieren, die russische Online-Bots und von Russland finanzierte Parteien und andere politische Akteure dann auszubeuten versuchen.

In dieser Mitverantwortung der Geisteswissenschaften liegt ein doppelter Auftrag. Die Geisteswissenschaften müssen sich zum einen ihrer Verantwortung in einer demokratischen Gesellschaft stets bewusst sein. Sie müssen sich bewusst sein, dass Forschung und Lehre so oder so eine Form des gesellschaftlichen Engagements sind. Den Elfenbeinturm gibt es nicht, nicht in Deutschland und schon gar nicht in Russland. Zum anderen gilt: Gerade insofern und weil es auch geisteswissenschaftliches Wissen ist, das in diesem Krieg als Waffe eingesetzt wird, fällt es zu einem Teil auch den Geisteswissenschaften zu, dieses Wissen als solches zu verstehen, zu kontern und zu neutralisieren.

Ein Beispiel für den Krieg des Wissens liefert eine Gruppe von Online-Aktivisten, die sich unter dem Hashtag #NAFO zusammengeschlossen haben. NAFO steht für „North Atlantic Fella Organisation“. Die „Fellas“ sind Comic-Hunde in Fantasie-Kostümen, die auf Twitter in Horden mit improvisierten Memes über russische Desinformation herfallen und die Verlautbarungen russischer Regierungsvertreter in einer Flut von Unsinn untergehen lassen. „Die Russen haben archaische Troll-Farmen und Bots. Wir haben NAFO. Und am Ende siegt die Wahrheit“, sagte jüngst ein Berater des ukrainischen Präsidenten Zelensky. Kunstwert haben die „Fella“-Hunde nicht. Aber als spontan organisierte Form der strategischen Kulturproduktion in Kriegszeiten sind sie signifikant. Gerade in Deutschland macht in manchen Kreisen die Furcht vor einem neuen ukrainischen Nationalismus die Runde. NAFO ist ein internationales Netzwerk. Ganz in der Tradition des Dadaismus, aber mit Konsequenzen außerhalb der Kunst, zeigen sie die befreiende Kraft eines grenzüberschreitenden Unsinns, aus dem am Ende Wahrheit entsteht. Und leisten damit auf ihre Weise einen Beitrag zu einer neuen geistigen Landkarte eines demokratischen Europa.

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Dieser Text ist Teil 6 unserer Themenreihe „Demokratie gestalten“. Er ist zuerst in der Oktober-Ausgabe (10/22) des JOURNAL FRANKFURT erschienen.
 
21. Oktober 2022, 13.20 Uhr
Vinzenz Hedinger
 
 
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