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Foto: Adobe Stock/ Lapping Pictures
Foto: Adobe Stock/ Lapping Pictures

Demokratie-Reihe

Die Zerbrechlichkeit an den Anfang setzen

Wie wollen wir uns unsere eigene Demokratiegeschichte erzählen? Und wem? Das neugegründete Netzwerk Paulskirche nimmt das anstehende Jubiläum zum Anlass, um über diese Fragen nachzudenken. Ausgangspunkt ist, dass Demokratie mehr bedeutet, als „einfach“ nur zu wählen.
„Die Revolution beginnt mit der Zerbrechlichkeit“, schreibt der Queer-Theoretiker Paul B. Preciado in seinem Buch „Ein Apartment auf dem Uranus“. Am Anfang stehen für ihn nicht laute Fanfarenklänge, stürmische Reden oder kollektive Platzbesetzungen, sondern ein grundlegendes Eingeständnis über die Fragilität und Vulnerabilität unseres Zusammenlebens. Revolutionär ist in diesem Sinne eine veränderte Beziehungsweise zwischen uns und dem „Anderen“. Was folgt aus diesem Verständnis für die Art und Weise, wie wir über Revolutionen
nachdenken und an diese erinnern?

2023 jährt sich zum 175. Mal ein Ereignis, das als „Deutsche Revolution“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Am 18. Mai 1848 fanden sich Abgeordnete aus den deutschen Ländern in der Frankfurter Paulskirche ein, um die erste verfassungsgebende Nationalversammlung einzuberufen. Der deutsche Parlamentarismus war geboren. Als John F. Kennedy im Jahr 1963 – mehr als ein Jahrhundert später – die Stadt besuchte, wird er sagen: Die Paulskirche ist „the Cradle of the German Democracy“, die Wiege der deutschen Demokratie. An diese Geburtsstunde soll 2023 erinnert werden, in und über Frankfurt hinaus. Der 175-jährige Gedenktag ist dabei nicht die erste erinnerungspolitische Feierstunde dieser Art. Periodisch stattfindende Jubiläen wie dieses dienen dazu, sich aus der Gegenwart heraus an die Vergangenheit zu besinnen, um mit dem Blick von Heute das Gestern für ein kommendes Morgen besser zu begreifen. Jede Zeit hat somit ihre Fragen, ihren Problemhorizont, mit dem sie auf die eigene Geschichte blickt. Aus welchen genealogischen Reservaten man dabei schöpft, welche Narrative man bemüht und von welchen Subjekten man erzählt, zeigt immer auch, wie und an wen man erinnert. Wie also wollen wir uns unsere eigene Demokratiegeschichte erzählen? Und wem?

Das neugegründete Netzwerk Paulskirche nimmt das anstehende Jubiläum zum Anlass, um über diese Fragen nachzudenken. Den Ausgangspunkt bildet dabei die Einsicht, dass Demokratie als eine Lebensform verstanden werden kann, die mehr bedeutet, als „einfach“ nur zu wählen. Demokratie ist keine Regierungsweise oder Staatsform, sondern etwas, das vor Ort und im Alltag der Menschen praktiziert und erfahren wird. Demokratie als Lebensform meint somit beides: sowohl das Zusammenkommen unter dem Banner des Geteilten als auch das Raumgeben für die Verschiedenheit und Pluralität aller Menschen einer Gesellschaft. Es bedeutet, Gemeinsames sichtbar zu machen und gleichzeitig die Risse, Brüche und Diskontinuitäten anzuerkennen, die noch immer konstitutiv dafür sind, warum sich bestimmte Menschen mit bestimmten Räumen, Ereignissen und Gruppen identifizieren – und andere nicht.

An 1848 zu erinnern heißt dann auch, von all jenen zu erzählen, die bislang kaum Einzug in die politische Erinnerungskultur gefunden haben: Dem akademisch geprägten Honoratiorenparlament von damals sollten im Jahr 2023 multiple Perspektiven gegenübergestellt werden, die sich nie nur auf eine Identität reduzieren lassen. Folgt man Paul B. Preciado in seiner Erkenntnis, dass die Revolution mit der Zerbrechlichkeit beginnt, dann muss man heute explizit das Leise und Fragile, das Anfällige und Unvernommene ins Zentrum stellen und die mikropolitischen Frakturen beleuchten, die ein vermeintlich geronnenes soziales Sein aufbrechen (können). 2023 an 1848 zu erinnern heißt, Geschichten jenseits der Mehrheitsgesellschaft zu erzählen und Stimmen anzuhören, die allzu lange nur als unbehagliches Hintergrundrauschen ihren Platz finden durften. Dazu gehört auch, immer wieder laut darauf aufmerksam zu machen, dass noch heute knapp zehn Millionen Menschen in Deutschland nicht berechtigt sind, wählen zu gehen, um über die Zukunft des Landes mitzuentscheiden, in dem sie leben. An das Erbe der „Deutschen Revolution“ anzuschließen, kann also nur bedeuten, über sie hinauszugehen und anders über sie zu denken. Revolutionär ist heute, das Zerbrechliche an den Anfang zu setzen.

Im Netzwerk Paulskirche haben sich über 40 zivilgesellschaftliche Akteur:innen genau diesem Programm verschrieben. Anstatt einer rein musealen Affirmation des Gewesenen zu frönen, wollen wir Demokratieprozessen, -projekten und -praktiken Raum geben, die die Mitbestimmung in den Fokus rücken. Wir wollen Demokratie als etwas stets nur im Kommenden verstehen, als eine gemeinsame Praxis, die sich niemals erschöpft. Die Aktivitäten des Netzwerks sind deshalb nicht auf den 18. Mai begrenzt, sondern erstrecken sich prozesshaft über zwei Jahre: von der ersten Veranstaltung im Herbst 2022 über das Jubiläumsjahr 2023 bis hin zur Etablierung und dauerhaften Fortführung bestimmter Formate im Jahr 2024. Dabei laufen insbesondere während der Frankfurter Tage der Demokratie vom 12. bis zum 17. Mai 2023
viele Projekte und Veranstaltungen zusammen. An mehreren Tagen kommt es zu vielfältigen Begegnungen und Veranstaltungen unterschiedlichster Größe und Art. Entscheidend ist für uns dabei ein dezentraler Ansatz. Demokratie findet nicht nur an „altehrwürdigen“ Orten wie der Paulskirche statt, sondern überall in der Stadt: auf öffentlichen Plätzen, in den Saalbauten, in den Stadtteilen, im Offenen Haus der Kulturen und vielen weiteren Frankfurter Orten. Demokratie, verstanden als eine »Demokratie der Sinne« (Judith Butler), soll dadurch in ihrer Multidimensionalität erfahrbar werden. So entsteht ein offener Raum in der gesamten Stadt, der das, was Demokratie jenseits von Wahlen und Parlamentsdebatten noch alles ist, nicht nur kartographiert, sondern performativ in Szene setzt.

Informationen zu den konkreten Projekten des Netzwerks – wie etwa der Global Assembly, dem internationalen Jugendparlament oder dem DemokratieWagen – finden Sie auf www.netzwerk-paulskirche.de.

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Dieser Text ist Teil 3 unserer Demokratie-Reihe anlässlich des Paulskirchen-Jubiläums 2023. Er ist zuerst in der Juli-Ausgabe (7/22) des JOURNAL FRANKFURT erschienen.
 
28. Juni 2022, 12.17 Uhr
Programmteam des Netzwerks Paulskirche
 
 
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