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Foto: Peter-Andreas Hassiepen
Foto: Peter-Andreas Hassiepen

80. Geburtstag

Wilhelm Genazino: Der Abschweifer

Am 22. Januar wäre der Frankfurter Schriftsteller Wilhelm Genazino 80 Jahre alt geworden. Seine gesammelten Notizen aus mehr als vierzig Jahren erscheinen nun als Buch; das Literaturhaus widmet ihm einen Vorleseabend unter dem Titel „Best of Abschweifung“.
Wilhelm Genazino, so selbstbewusst darf man als Stadtmagazin schon sein, war ein Frankfurter Schriftsteller. Geboren wurde er zwar 1943 in Mannheim, doch erstens ist das nicht allzu weit weg, zweitens hat Genazino viele Jahre seines Lebens in Frankfurt verbracht, hat hier deutliche literarische Spuren hinterlassen und sich vor allem eine äußerst treue Lesergemeinde erschrieben. In seinem Buch „Tarzan am Main“, in dem Genazino Texte unterschiedlicher Gattungen gesammelt hatte, nahm Genazino Stellung zu dem Erstaunen, dass dem Frankfurter oder in Frankfurt Lebenden noch immer von Auswärtigen entgegengebracht wird; ein Erstaunen über die Tatsache, dass man sich freiwillig in dieser Stadt aufhält, obwohl man doch auch woanders sein könnte: „Das Vorbild solcher Verurteilungen“, schreibt Genazino, „sind lupenrein „schöne Städte“ wie etwa Zürich, Salzburg oder Straßburg. In diesen tadellosen Städten herrscht der Schein einer architektonischen Monokultur, in deren Massenkompatibilität ich nicht leben möchte.“ Wilhelm Genazino ist am 12. Dezember 2018 gestorben. Sein letzter Roman hieß „Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze“; ein Titel, der typisch war für Genazino und Bezug nahm auf ein früheres Buch: „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“.

Der Komponist Luigi Dallapiccola äußerte einmal über einen Kollegen, dass dieser nicht hunderte von Werken, sondern vielmehr stets dasselbe Werk immer wieder geschrieben habe. Er meinte das nicht boshaft. Gleiches ließe sich über Wilhelm Genazino sagen: Er hatte sein Thema gefunden, vor allem aber den Typus jenes verkrachten, eigenbrötlerischen, melancholischen Anti-Helden, durch dessen Augen die Welt beschrieben wurde. Genazinos erster und auch großer Erfolg als Schriftsteller war die zwischen 1977 und 1979 erschienene „Abschaffel“-Trilogie, benannt nach ihrer Hauptfigur. Es war die Geburtsstunde eines Antiheldentypus, den Genazino in seinen folgenden Romanen weiterentwickelte: Der des melancholischen, mittelalten Flaneurs, der sich treiben lässt, in jeder Hinsicht, mit seinen Nöten im Job und bei den Frauen. Der Kleinbürger im Literatur-Großformat, das war Genazinos Spielfigur, die er mit tiefgründigem Humor und Ironie auf dem Spielfeld der Widrigkeiten der Existenz hin und her bewegte. Eine Literatur, die durchaus, wenn auch über Umwege, als eine Form der engagierten Literatur gelten durfte. Denn die Versprechungen auf eine Änderung der in den Romanen beschrieben Zustände blieben stets allesamt unerfüllt. „So geht es nicht weiter! So kann es nicht weitergehen! Es muss alles ganz anders werden! Ich kann mich nicht jeden Tag in der Stadt herumtreiben!“ So lässt Genazino seine Romanfigur Abschaffel sprechen. Und man kann ihr entgegnen: Doch, das geht.

2004 wurde Genazino mit dem Büchnerpreis, dem bedeutendsten deutschen Literaturpreis ausgezeichnet. Zu dieser Zeit war die Kritik bereits geteilt: Genazino schreibe seit Jahrzehnten immer wieder dasselbe, exakt gleich lange Buch, und das sei auch noch schlecht, hieß es. Oder: Genazino radikalisiere sich mit jedem Buch auf subtile und faszinierende Weise ein Stück mehr, indem er seine Durchschnittshelden immer ein kleines Stückchen weiter von uns allen und einem funktionierenden Gemeinwesen wegrücke. Beide Lesarten haben ihre Berechtigung. Das Lesefest „Frankfurt liest ein Buch“ widmete sich im Jahr 2011 noch einmal in mehr als 50 Veranstaltungen der „Abschaffel“-Trilogie, die zu diesem Anlass als Sonderedition in einem Band erschien. 2014 wurde Wilhelm Genazino mit der Goethe-Plakette ausgezeichnet.

Am 22. Januar 2023 wäre er 80 Jahre alt geworden, und der Carl Hanser Verlag lässt seinem Autor posthum eine schöne Würdigung zukommen: Pünktlich zum Geburtstag erscheint der von Jan Bürger und Friedhelm Marx herausgegebene Band „Der Traum des Beobachters“. Genazino verließ seine Wohnung nie ohne Zettel und Stift in der Tasche. Seine Alltagsbeobachtungen notierte er, tippte sie später ab und sammelte sie in einem so genannten „Materialcontainer“. Diese bislang unbekannten Notizen aus den Jahren 1972 bis 2018 werden nun auch dem Publikum zugänglich gemacht. Dazu gibt es eine Reihe von 20 Veranstaltungen quer durch die Republik, bei denen aus dem Buch gelesen und an den Autor erinnert wird. Im Literaturhaus Frankfurt geschieht das in Form eines Vorleseabends mit den Schauspielern Peter Lerchbaumer und Melanie Straub und der Regisseurin Marlene Breuer. Titel des Abends: „Best of Abschweifung“. Das passt.

>> Wilhelm Genazino: Der Traum des Beobachters. Aufzeichnungen 1972–2018. Hanser Verlag, 464 S., 34 €.
>> Best of Abschweifung – Ein Genazino-Vorleseabend. Frankfurt, Literaturhaus, 24.1., 19.30 Uhr, Eintritt: 9 €.


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Dieser Text ist zuerst in der Januar-Ausgabe (1/23) des JOURNAL FRANKFURT erschienen.
 
20. Januar 2023, 11.28 Uhr
Christoph Schröder
 
 
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