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Foto: Symbolbild © Adobe Stock/lettas
Foto: Symbolbild © Adobe Stock/lettas

Gefängnisseelsorge

„Die Taten haben alle eine Geschichte“

Christiane Weber-Lehr ist Gefängnisseelsorgerin in der Frauen-Justizvollzugsanstalt Preungesheim. Im Gespräch erzählt sie von ihren Aufgaben, welche Rolle der Glaube dabei spielt und warum das Gefängnis ihr Traumarbeitsplatz ist.
Frau Weber-Lehr, was macht eine Seelsorgerin in der JVA eigentlich? Inwiefern unterscheidet sich Ihre Arbeit von der von Psychologen oder Sozialarbeitern?
Christiane Weber-Lehr:
Die Gefängnisseelsorge umfasst die ganze Institution, das heißt wir fühlen uns verantwortlich für alle Menschen, die in irgendeiner Art und Weise in dieser Anstalt leben oder tätig sind. Das sind also nicht nur die Gefangenen, sondern auch die Bediensteten des Vollzugsdienstes oder auch Psychologen oder Sozialarbeiterinnen. Grundlage für alles – und das macht uns zu etwas Besonderem – ist, dass wir dem Seelsorgegeheimnis unterliegen. Alles, was im Vier-Augen-Gespräch passiert, egal mit wem, bleibt auch unter vier Augen. Damit haben wir natürlich eine ganz andere Vertrauensbasis, denn alle anderen Berufsgruppen sind der Justiz verpflichtet und müssen Gutachten oder Berichte schreiben. Das Seelsorgegeheimnis gibt ein besonderes Gesprächsklima und ist ein ganz hohes kirchliches Gut.

Wie sehr spielt der Glaube in den Gesprächen eine Rolle?
Ein Gefängnis ist natürlich auch ein Abbild der Gesellschaft. Ein großer Prozentsatz der Frauen ist nicht kirchlich gebunden oder keine Kirchgängerin, aber es sind durchaus auch kirchlich sozialisierte Frauen aus unterschiedlichen Religionen da. Wir versuchen immer, den persönlichen Glauben einer Frau zu unterstützen. Im Grunde geht es einfach darum, als Kirche da zu sein und die Frauen auf diesem Weg zu begleiten, was auch immer geschehen ist. Und zum anderen feiern wir auch Gottesdienst, oder Frauen sagen, sie möchten mal mit mir beten oder fragen, ob ich zum Beispiel am Todestag der Mutter mal eine Kerze für sie anzünden kann. Glaube hat da etwas sehr handfestes und existenzielles.

Wie kamen Sie denn überhaupt zu dieser Aufgabe? Das Gefängnis ist ja nun nicht unbedingt für alle der Traumarbeitsplatz schlechthin.
Da muss ich lachen, denn ich schreibe mittlerweile über meine Arbeit Gedichte und in einem Gedicht schreibe ich genau das. Ich war vorher schon Klinikseelsorgerin, dann stand eine Versetzung an und da war diese Stelle ausgeschrieben. Im ersten Moment dachte ich natürlich „Ach du lieber Himmel, ich geh doch nicht in den Knast“. Das ist eine ganz normale Reaktion. Dann habe ich aber festgestellt, dass es – ähnlich wie in der Klinikseelsorge – um Menschen in Krisen oder Sondersituationen geht, um biographisches Arbeiten und existenzielle Fragen. In einem der Praktika vorher hat mich mein Mentor gefragt, wie es mir denn hier geht im Knast, mit den ganzen Gittern und Türen. Und ich habe gesagt: „Ich weiß ja nicht, ob ich das sagen darf, aber ich fühle mich wohl hier drin.“ Dieses ganze Ambiente hat mir keine Angst gemacht und das ist eigentlich die Grundvoraussetzung. Und ja, das Gefängnis ist mein Traumarbeitsplatz.

Wie ist diese Aufgabe denn mit Ihrem Glauben vereinbar? Haben Sie sich darüber im Vorfeld Gedanken gemacht?
Ja, selbstverständlich. Die eine Frage ist natürlich: Wie kann ich mit so einem Menschen überhaupt sprechen oder ihm gegenübersitzen, von dem ich weiß, er hat sein Kind getötet, mit Drogen gedealt oder überhaupt einen Menschen getötet? Aber ich habe mal im Krankenhaus eine sehr prägende Erfahrung mit einer Krebspatientin gemacht, die sagte: „Sehen Sie mich bitte nicht nur als Kranke, ich bin doch auch noch ein Mensch.“ Und das ist auch in der Gefängnisseelsorge das Wichtigste, dass man den Menschen sieht und nicht nur die Tat. Und ich habe gemerkt, das kann ich. Was nicht heißt, die Tat zu vergessen, aber sie nicht in den Vordergrund zu stellen.

Wie nehmen die Frauen Ihre Angebote an?
Wir könnten 24 Stunden am Tag arbeiten. Es ist eine existenzielle Situation und tiefgehende oder religiöse Gespräche sind genauso wichtig, wie auch einfach nur mal mit einem anderen Menschen über Gott und die Welt zu reden. Die meisten kommen wirklich aus existenziellen Lebenssituationen, oft sind das sehr schwere Biografien, die wir antreffen und auch sehr beschädigte Seelen. Die meisten Frauen haben selbst Gewalt oder Missbrauch von Kindesbeinen an erlebt. In unseren Gesprächen geht es dann manchmal um Glaube und Religion, aber eben ganz viel um Beziehungen, die Familie, was sie erlebt haben und was vielleicht auch dazu geführt hat, dass sie inhaftiert wurden. Nicht selten geht es um das Thema Schuld.

Auch wenn die Tat nicht im Vordergrund stehen soll: Sprechen Sie auch darüber, was die Frauen getan haben?
Da die Tat ja zum Menschen gehört, ist sie natürlich schon irgendwie präsent. Es ist auch nicht ganz unwichtig, dass wir zumindest ein wenig wissen, mit wem wir es zu tun haben. Denn teilweise versuchen sie auch, uns auf ihre Seite zu ziehen, um irgendetwas zu erreichen – zum Beispiel, um auf eine andere Station verlegt zu werden. Und die Tat spielt natürlich auch dann eine Rolle, wenn eine Frau mir davon erzählen möchte. Dann höre ich zu und manchmal versuchen wir zu verstehen, wie es so weit kommen konnte. Aber die Tat verstellt mir nicht den Blick auf die Frau, die auch noch vor mir sitzt. Manchmal werde ich gefragt, ob man einer Mörderin ansieht, dass sie eine Mörderin ist. Nein, tut man nicht. Sie sehen aus wie Du und Ich. Und Mord ist ja auch nicht immer gleich Mord. Die Taten haben alle eine Geschichte und die finde ich schon auch wichtig.

Was sind dabei für Sie die größten Herausforderungen?
Die Gefangenen, gerade die mit wenig Geld, bitten uns um Kaffee, Zucker, Tabak und so weiter – und im Einzelfall versuchen wir auch, Wünsche zu erfüllen. In diesem Geben gerecht zu sein, ist schon ein herausforderndes Thema. Die andere Herausforderung ist, den Menschen wahrzunehmen und auch vorsichtig zu sein und sich abzugrenzen. Viele haben emotional so eine hohe Bedürftigkeit, dass sie einen aussaugen wie ein Schwamm. Natürlich ist es mir auch wichtig, immer da zu sein, aber man muss einfach mit Nähe und Distanz und mit Grenzen arbeiten.

Wie schaffen Sie es, davon abzuschalten?
Ich wohne nicht in Frankfurt und das ist schonmal etwas, was mir gut tut – einfach aus Frankfurt rauszufahren, Dinge auch räumlich hinter mir zu lassen. Und sicherlich hilft es auch, immer mal mit Kollegen im Gespräch zu sein. Ich hatte mal eine ältere Kollegin, die hatte in ihrem Wohnzimmer ein Kreuz hängen und die sagte: Wenn mich etwas so beschäftigt und ich gar nicht mehr kann, dann gucke ich immer auf das Kreuz und sage „So Jesus, jetzt nimm du mal all meine Erlebnisse, ich hab Feierabend“. Das hat sich mir so eingeprägt. Und das ist was, was ich auch mache und die spirituelle Seite an meinem Beruf: Einfach mal die Dinge abzugeben und zu sagen, das ist jetzt dein Job und nicht mehr meiner, oder einfach auch zu beten.
 
8. Februar 2022, 12.30 Uhr
Laura Oehl
 
Laura Oehl
Jahrgang 1994, Studium der Musikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt, Journalismus-Master an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, seit Dezember 2020 beim JOURNAL FRANKFURT. – Mehr von Laura Oehl >>
 
 
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